Über Beziehungsfähigkeit und Bindungsangst
– von Jörg Berger
»Beziehungsfähigkeit« klingt wie Führerschein und Hochschulreife. Muss man hart arbeiten und könnte man sogar durchfallen? Doch Liebe funktioniert nicht nach dem Leistungsprinzip. Sie ist kinderleicht.
Kein Kind würde seine Mutter eintauschen, auch nicht gegen eine, die hübscher, verständnisvoller, kreativer oder fürsorglicher ist. Denn es wäre vielleicht eine bessere Mutter, aber nicht seine. Wie kommt das eigentlich? Das liegt an unserem Bindungssystem. Ein Mensch, dem wir täglich begegnen, der uns berührt, mit dem wir sprechen, der für uns da ist, der uns sieht und uns aushält, den müssen wir lieben. Eine Mutter mag viele Schwächen und Defizite haben. Sie kann sogar selbstbezogen und gemein sein. Ihr Kind liebt sie trotzdem. Es kann nicht anders.
Viele Menschen, die sich in ihrer Liebesbeziehung wohlfühlen, würden sagen: »Meine Partnerin ist die Beste!/Mein Partner ist der Beste!« Objektiv kann das nicht stimmen, aber subjektiv schon. Wenn mich jemand fragt, wie man »beziehungsfähig« wird, ist das meine erste Antwort:
»Vertraue dich der Beziehung an. Wenn ihr gemeinsame Erfahrungen macht, du für den anderen da bist und zulässt, dass ein anderer für dich da ist, dann entsteht Liebe, es geht gar nicht anders.«
Das gilt auch für andere Bindungen. Mein Freund, mein Vater oder auch mein Patient: Ich würde nie vergleichen, mich fragen, ob es vielleicht bessere Freunde, Väter oder Patienten gibt, denn es ist doch »mein« Freund, »mein« Vater und auch »mein« Patient, mit dem ich eine Wegstrecke seines Lebens gehe. Und umgekehrt: Sobald eine Bindung da ist, werde ich nicht mehr verglichen. Ich muss mich nicht mehr beweisen. Doch wenn wir gar nicht anders können, als zu lieben, drängt sich natürlich die Frage auf: »Wie kann ich dann verhindern, die Falsche/den Falschen zu lieben?«
Das wenige, was man beachten muss
Wenn ich sage, Liebe entsteht unweigerlich, wenn man vertraut miteinander wird, betone ich für die erotische Anziehung das Gegenteil: Wenn sie nicht von Anfang an da ist, kommt sie in der Regel auch später nicht. Jemanden lieben zu lernen, den man nicht begehren kann, kann zur Falle werden. Umgekehrt fehlen in einer Annäherung manchmal erotische Signale des anderen, etwa ein flirtender Blick, ein Kompliment oder eine beiläufige Berührung. Dann sollte man bald klären, ob ein anderer für mehr als eine
Freundschaft offen ist. Wer sich bereit für die Liebe macht, kann sich auch bereit für erotische Anziehung machen. Wie man seine Wahrnehmung für die Natur oder für Musik öffnen kann, kann man sie auch öffnen für die Schönheit und das Geheimnis des anderen Geschlechts. Und umgekehrt muss man kein Schönheitsideal erfüllen, um erotisch anziehend zu sein.
Ein positives Verhältnis zum eigenen Körper aufbauen, seiner Erscheinung einen eigenen Stil geben und sich zeigen, sich als Frau/als Mann fühlen und auch als Frau/Mann in Beziehung treten, all das weckt eine erotische Anziehung.
Eine zweite Frage betrifft die gemeinsamen Werte. Muss mein Partner Christ sein? Und wenn ja, woran genau würde ich das festmachen? Gibt es eine Berufung, die mein Partner mittragen sollte? Gibt es Lebensentwürfe, die für mich nicht infrage kommen, auch wenn die Liebe noch so groß wäre? Der Mut, sich ein paar wenige k.o.-Kriterien zu erlauben, kann einem Zeit ersparen. Wunschlisten, die noch weiter gehen, bringen meiner Erfahrung nach wenig. Denn oft werden sie von der Liebe über den Haufen geworfen, manchmal werden sie zu Triggern von Bindungsangst. Denn wer ohnehin Angst hat, dass es ihm in einer Bindung nicht gut geht, dem kann der Abgleich mit einer Wunschliste den Schlaf rauben. Entspannter ist es, wenn man nach dem Kennenlernen Freunden Anteil gibt und die fragt: »Könnte das passen?« Denn die können Unterschiede – zum Beispiel in Persönlichkeit, Herkunft oder Lebensträumen – leichter in ein Gesamtbild einordnen.
Eine entscheidende Frage
Als Psychotherapeut höre ich oft Annäherungsgeschichten. Menschen, die sich mit Bindungen schwertun, berichten mir manchmal ausführlich, was für die Beziehung spricht und was dagegen. Irgendwann unterbreche ich und frage: »Fühlen Sie sich denn wohl mit der andern/dem andern?« Falls nicht, warum
sollte man die Annährung fortsetzen? Falls ja: Wo ist das Problem? Wer sich von einer anderen Person angezogen fühlt, mit ihr zentrale Werte teilt, sich mit ihr wohlfühlt und dennoch zweifelt, erlebt Bindungsangst. Ob man sich mit einer anderen Person wohlfühlt, beantwortet die wichtigen Fragen: Komme ich auch mit den Schwächen des anderen zurecht? Oder triggert mich ein anderer zu häufig und löst bei mir Unsicherheit, Enttäuschung oder verletzte Gefühle aus? Mit manchen Schwächen kann man
wunderbar leben, weil sie einen nicht persönlich treffen. Andere würden einen unglücklich machen. Das kann man oft schon in der ersten Begegnung spüren. Schwerer ist es zu bemerken, wie es umgekehrt ist. Wenn ein anderer mich zwar mag, mit meinen grundlegenden Schwächen aber nicht zurecht kommt, blockiert das irgendwann die Annäherung.
Das Annäherungstempo ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich trotzdem wird eine Beziehung von Woche zu Woche ein wenig offener, näher, vertrauter und zärtlicher.
Wenn es irgendwann nicht mehr weitergeht, geht es dem andern offenbar nicht umfassend gut mit mir. Auch dann fühlt man sich in der Beziehung nicht mehr wohl, aber nicht, weil einen etwas am anderen stört, sondern weil man spürt, dass irgendetwas nicht stimmt. Man kann nur nachfragen und wenn das
nicht hilft, ist es Zeit, sich aus der Beziehung zu lösen. Denn beides wäre eine Falle: Einen Menschen zu lieben, mit dessen Schwächen man nicht zurechtkommt, oder an der Seite eines Menschen zu leben, der meine Schwächen nicht ertragen kann. Zwar entwickelt sich jeder in einer Liebesbeziehung. Man wird sich seiner Schwächen bewusster und kann manches ändern. Doch grundlegende Persönlichkeitszüge mit ihren Stärken und Schwächen bleiben. Darüber sollte man sich keine Illusionen machen.
Weil das Wohlbefinden so viel aussagt, darf man es auf keinen Fall mit Konfliktvermeidung erkaufen. Besser nutzt man auch kleine Konflikte, um einander kennen zu lernen: Wie reagiert ein anderer, wenn ich nicht nachgebe, sondern taktvoll auf einem fairen Kompromiss bestehe? Was geschieht, wenn ich einmal anspreche, was mich verletzt oder gestört hat? Können wir solche Situationen gemeinsam bewältigen?
Gefährliche und normale Bindungsangst
Seit Bindungsängste in aller Munde sind, werden sie manchmal zum Strohhalm, an dem sich Menschen festhalten, wenn es in einer Beziehung nicht gut aussieht: »Vielleicht liegen die Probleme ja daran, dass der andere Bindungsangst hat. Wenn er sie nur überwindet, wird es schön mit uns.« Tatsächlich kann Bindungsangst eine Beziehung blockieren, die glücklich werden könnte. Wer dann an der Seite des Bindungsängstlichen bleibt, geht aber gleich zwei Risiken ein. Denn erstens ist die Überwindung von
Bindungsangst ein längeres, bedrohliches Projekt, das Betroffene nicht selten wieder abbrechen. Zweitens könnte am Ende herauskommen: »Es tut mir sehr leid. Es war gar nicht meine Bindungsangst, es passt nicht zwischen uns.« Daher sollte man gut prüfen, ob man mit dem Risiko leben will und kann.
Wir können nicht jeden begehren, aber Liebe entsteht zu jedem Menschen, der uns vertraut wird. Eingeschränkt wird das nur durch den Schaden, den wir als Kinder in unserer Bindungsfähigkeit erleiden. Denn ein gewisses Maß an Bindungsangst hat jeder. Aus ihr resultieren unterschiedliche Schwächen wie Distanziertheit, Dominanz und viele mehr. Mit ihnen schützen wir uns vor Beziehungserfahrungen, die wir fürchten. Nur das begrenzt unsere Liebesfähigkeit. Nicht jeder kommt mit unseren Schwächen zurecht und wir kommen nicht mit jeder Schwäche anderer klar. Wenn zwei Menschen offen miteinander umgehen und sich dennoch miteinander wohlfühlen, passen auch die Schwächen zusammen. Dann ist die Bahn frei für die Liebe.