Vom Burnout zur Berufung
– von Chris Boy
Es ist Sonntagmorgen. Ich möchte mich umziehen und für den Gottesdienst fertigmachen. »Was machst du da?« Dieser Ausspruch meiner Frau lässt mich innehalten. Verdutzt schaue ich mich um – und bemerke, dass ich mir eine zweite Unterhose angezogen habe! Diese Situation ist sinnbildlich für meine Lebenssituation zu diesem Zeitpunkt: Burn-out! »Rien ne va plus«, nichts geht mehr! Wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Zugegeben, mein Zusammenbruch kam für Außenstehende vermutlich nicht ganz überraschend. Über Jahre hatte ich schon Raubbau mit meinem Körper betrieben – und damit auch mit meiner Seele! Auf der »Autobahn des Lebens« (Ausdruck eines Freundes für die Jahre zwischen 30 und 45) habe ich vollzeitig als Förderschullehrer mit Kindern mit einer geistigen Behinderung gearbeitet und immer wieder den folgenden Satz gehört: »Das, was du machst, könnte ich nicht!«
Für mich stellte meine berufliche Aufgabe jedoch keine Belastung dar, vielmehr habe ich häufig eher das Gefühl gehabt, mich in der Schule erholen zu können. So bin ich über viele Jahre betrübt gewesen, wenn es Ferien gab – im Gegensatz zu meinen Kollegen … Denn die eigentliche Herausforderung wartete auf mich Zuhause, in meiner eigenen kleinen Familie! Das Leben mit drei kleinen Kindern ist häufig bunt, lebhaft und herausfordernd. Unsere familiäre Konstellation durch ein Kind mit Besonderheiten hat unser Familienleben noch gründlicher durcheinandergewirbelt!
Eine folgenreiche Entscheidung
Da ich für meine Kinder »der beste Vater« sein wollte, traf ich die folgende, und letztendlich folgenschwere, Entscheidung: Die Zeit, die ich Zuhause bin, gehört meinen Kindern! Da mein eigener Vater früher viel beschäftigt gewesen ist, habe ich als Kind eher wenig Zeit mit ihm verbringen können. Also wollte ich meine Aufgabe besonders gut machen und für meine Kinder jederzeit verfügbar sein.
Die Entscheidung, die ich getroffen habe, mag ehrenwert klingen – sie ist aber in einer Vollkatastrophe geendet.
Über die Jahre bin ich immer frustrierter geworden, immer antriebsloser, immer reizbarer … Wie ein ständiges, ganz leichtes Gefälle, ging es immer weiter bergab mit mir. Die Freude ist weitgehend gewichen und stattdessen Schwermut in mein Leben eingezogen. Die falschverstandene »Hingabe« an meine Kinder und meine Familie hatte die völlige »Aufgabe« meiner selbst zur Folge.
So kam es unweigerlich zum großen Knall!
Eines Abends bin ich in einen Konflikt mit einem der Kinder geraten, habe es angeschrien und ihm sogar den sprichwörtlichen »Arschtritt« verpasst! Daraufhin sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt: Ich habe das Haus fluchtartig verlassen und bin, trotz Gewitter und Regen, in der Gegend rumgeirrt. »WAS HATTE ICH GETAN? Ich wollte doch der beste Papa sein! Und beste Papas machen so etwas nicht!« Ich war entsetzt über mich und mein Verhalten. Innerlich ist etwas in mir zerbrochen! Es war so, als hätte mir jemand den Stecker gezogen. Oder als wäre ich wie ein Stock durchgebrochen. Nichts war wieder so wie vorher!
Von diesem Moment an war ich kraftlos, konnte für Monate nicht mehr zur Arbeit gehen und habe fast niemanden um mich herum ertragen können. Ich war kaputt! Und das obwohl ich bis dahin mit dem Trugschluss durch mein Leben gegangen war, dass ich unkaputtbar bin! Selbst die Stunden in der Hängematte, die Vormittage ganz allein und die viele Möglichkeiten, mich zurückzuziehen, haben diesen schwierigen Zustand nicht auflösen können.
Mein Weg der Wiederherstellung
Dann kam er, der »Morgen der zweiten Unterhose« – und mit diesem die Einsicht, dass irgendetwas passieren muss. Dass ich Hilfe benötige, wenn ich aus diesem Loch je wieder rauskommen und das Tageslicht erblicken möchte.
So beantragte ich eine Reha in einer christlichen Einrichtung. Das war mir wichtig, da ich mir sicher war, dass letztendlich nur Gott mir wieder aufhelfen kann. Von der Beantragung bis zum Start der Reha-Maßnahme sind etwa vier Monate vergangen – für mich eine unerträglich lange Zeit des Wartens, da sich von selbst so gut wie nichts an meinem Zustand verbessert hat. Auch der Versuch, wieder zur Arbeit zu gehen ist nach ein paar Schultagen gescheitert.
Die Zeit in der Reha hat letzten Endes die Veränderung gebracht! Dort habe ich viel Ruhe und Abstand gehabt, bin viel spazieren gewesen und habe viele gute Impulse erhalten. Durch die wunderbare Begleitung durch einen wirklich weisen Therapeuten habe ich einige Lebenslügen aufdecken können und mit falschen Lebensmuster aufgeräumt. Und das Allerwichtigste: Ich habe mich selbst wieder gefunden!
Nach den Jahren der Selbstaufgabe bin ich meinen Bedürfnissen, Wünschen und Träumen wieder auf die Spur und dadurch mit mir selbst in Kontakt gekommen.
Gott hat mich durch Menschen wiederhergestellt. Das, was zerbrochen war, hat er wieder neu zusammengefügt. Nicht jedoch zu dem, was es vorher einmal gewesen ist. Mir ist bewusst geworden, dass ich verändert aus diesem halben Jahr hervorgegangen bin: Wo ich vorher bei 100 Prozent Energie gewesen bin, hatte ich gefühlt nur noch 70 Prozent – und das ist bis heute so und wird sich auch vermutlich nicht mehr ändern. Ich bin allgemein weniger belastbar als vorher und muss mir von daher meine Kräfte gut einteilen – und gegebenenfalls auch Dinge absagen! Aber ich lebe seitdem mein Leben bewusster und achte auf mich. Ich stelle meine Bedürfnisse nicht weiterhin hinten an, sondern nehme sie wahr und mich dadurch wichtig.
Ein alter Traum erwacht
Es ist noch etwas anderes passiert durch diesen Zerbruch: Als ich in der Reha war, hatte ich an einem Abend ein Gotteserlebnis. ER hat mir gezeigt, dass etwas Neues, etwas Wildes und noch Unerschlossenes auf mich wartet. Was das sein könnte, habe ich erst Monate später sehen können. Und dieses Neue hat unmittelbar etwas mit mir und meinem Zerbruch zu tun.
Und so haben meine Frau und ich den Schritt gewagt, den wir bereits als junges Paar vor etwa 20 Jahren geträumt haben: Ein Auszeithaus für Menschen in akuten Krisensituationen zu gründen. Die ATEMPAUSE wurde »geboren« – zunächst nur in unseren Gedanken, dann auf Papier, wo wir in den vergangenen Jahren viel gesponnen und geplant haben. In dieser Zeit haben wir uns vielfältig auf diese Aufgabe vorbereiten können. Bei team-f habe ich die Fortbildung für Gebetsseelsorge und Lebensberatung gemacht und dadurch viel für die Begleitung von Menschen lernen und gleichzeitig noch mehr in meinem eigenen Leben »aufräumen« können. Es folgte der Abschluss als Seelsorgerlicher Begleiter. Meine Frau und ich haben uns zudem gemeinsam an der team-f Akademie zu Paarberatern ausbilden lassen.
Der Start der Atempause
Und vor einigen Wochen sind wir dann tatsächlich aufgebrochen, haben unsere Stadt und unser gewohntes und geliebtes Umfeld verlassen und sind als Familie ins Allgäu gezogen. Gleichzeitig sind wir aus unseren Berufen ausgestiegen und haben als Lehrer damit auch die Sicherheiten einer Verbeamtung auf Lebenszeit aufgegeben. Zugegeben, dieser Schritt ist uns alles andere als leicht gefallen und wir haben immer wieder mit uns und mit Gott über diese Entscheidung gerungen. Jetzt, wo wir den Schritt aus dem sicheren Boot gegangen sind, fühlt es sich richtig und gut an!
Wir haben den Eindruck, dass Gott uns dieses Projekt nicht nur gerade ans Herz legt – vielmehr, dass er es schon vor 20 Jahren auf unsere Herzen geschrieben hat. Mit diesem Gefühl und dem Wissen, dass Gott an Bord ist, waren wir letztendlich bereit, unsere Berufe zu verlassen um unserer Berufung zu folgen. Es ist kein sicherer Weg, aber ein spannender – und wir sind bereit und neugierig darauf ihn zu gehen!
Atempause – Komm wieder zu dir
Die »Atempause« ist ein Ort, der Menschen in akuten Krisensituationen die Möglichkeit bietet, für ein bis zwei Wochen in einer Wohnung im Allgäu zu wohnen und somit auch räumlichen Abstand von einer bedrückenden Situation oder herausfordernden Umständen zu bekommen. Durch tägliche seelsorgerliche Gespräche kann eine Aufarbeitung der belastenden Situation beginnen und auf Wunsch auch nach dem Aufenthalt fortgeführt werden. Ziel ist, dass die Gäste der Atempause gestärkt und mit neuer Hoffnung und einer veränderten Perspektive an ihren Wohnort zurückkehren können.
Weitere Infos findest du hier: www.meineatempause.de