Wie erhöhte Empfindsamkeit den Alltag bestimmt und wie man damit umgehen kann
– von Brigitte Küster
Mindestens 20 Prozent der Bevölkerung ist mit einer angeborenen erhöhten Empfänglichkeit gegenüber Reizen ausgestattet. In der breiten Öffentlichkeit hat sich dafür der Begriff Hochsensibilität etabliert. Ein Artikel über eine neutrale Veranlagung, Verletzlichkeit und Resilienz.
Um es gleich vorwegzunehmen: Hochsensibilität wird im Allgemeinen mit Stressempfindlichkeit gleichgesetzt. Es scheint so zu sein, dass in vielen Köpfen eine Formel existiert, die sich so ausdrücken lässt: hochsensibel = stressempfindlich = verletzlich. Das ist aber sehr einseitig gedacht. Wohl ist es so, dass durch die erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit Erlebnisse, Situationen und Begebenheiten stärker wahrgenommen und deshalb auch besser erinnert und gespeichert werden. Dies gilt aber sowohl für negative als auch für positive Erfahrungen.
Das bedeutet nichts weniger, als dass die angebliche Stressempfindlichkeit/Verletzlichkeit Hochsensibler
ein Mythos ist. Dies deswegen, weil Verletzlichkeit im Allgemeinen negativ konnotiert ist. Daher erscheint die gesamte Veranlagung zur erhöhten Empfindsamkeit in einem negativen und schwächenden Licht. Wichtig scheint mir, folgendes zu differenzieren:
Verletzlichkeit entsteht im Laufe des Lebens durch biografische Erfahrungen, hat aber nicht ursächlich etwas mit der neutralen Veranlagung der Hochsensibilität zu tun.
Was aber ist Hochsensibilität eigentlich?
Um diese Veranlagung klarer zu fassen, hat Elaine Aron, klinische Psychologin aus San Franzisco, vier Kriterien formuliert, die allen Hochsensiblen gemeinsam sind:
- gründliche Informationsverarbeitung
- die Tendenz zur schnellen Übererregbarkeit
- emotionale Intensität
- sensorische Empfindsamkeit
Diese Kriterien werden in allen gängigen Fragebögen zu Hochsensibilität erfasst und bilden das Gerüst, an dem man sich orientieren kann. Daneben gibt es aber auch ein breites Spektrum, wie sich diese Kriterien im Leben zeigen und ausdrücken können. Deshalb ersetzt diese Aufstellung nicht das persönliche Gespräch mit einer Fachperson.
Allgemein lässt sich aber feststellen, dass hochsensible Menschen zum vertieften Nachdenken neigen, tiefgründige und weitreichende Gedanken haben und ihre Verarbeitungsprozesse im Gehirn komplexer verlaufen als bei Normalsensiblen (gründliche Informationsverarbeitung). Außerdem reagieren sie stärker auf Reize jeglicher Art, aber eben auch auf positive, wie eine nette Begegnung, ein freundliches Wort, ein schöner Sonnenauf- oder -untergang (Tendenz zur schnellen Übererregbarkeit).
Weiterhin empfinden und reagieren sie emotional intensiv, auch wieder sowohl negativ als auch positiv. Sie können sehr überschwänglich sein und dann aber auch wieder zutiefst bedrückt (emotionale Intensität). Und schließlich kann alles, was über die Sinne wahrgenommen wird, stark empfunden werden, seien es Geräusche, Berührungen, Geschmäcker oder Gerüche (sensorische Empfindsamkeit).
Aus diesen Beschreibungen heraus kann man leicht ersehen, dass das Leben Hochsensibler sehr komplex ist. Hochsensibilität äußert sich in jedem Lebensbereich: im Berufsleben, im Eltern-Sein, in der Freizeitgestaltung und in den privaten Beziehungen.
Hochsensibilität also alleine auf Stressempfindlichkeit bzw. Verletzlichkeit zu reduzieren, wird dieser Veranlagung nicht gerecht.
Mit der Hochsensibilität gut umgehen
Wie kann denn nun lebensfreundlich und nutzbringend mit dieser Veranlagung umgegangen werden? Tatsache ist, dass hochsensible Menschen einen anderen Rhythmus zwischen An- und Entspannung brauchen als Normalsensible. Damit meine ich, dass sie sehr davon profitieren, mehrere kleine Pausen über den Tag verteilt einzulegen, vielleicht auch die Arbeits- und/oder Einkaufszeiten so zu legen, dass man der Rushhour möglichst entgeht. Morgens eine Viertelstunde früher aufzustehen und entspannter in den Tag zu kommen, kann bereits eine große Veränderung im Erleben bewirken.
Ich empfehle gerne, jede Stunde eine kleine »Mikropause« einzulegen, sich zu fragen, wie es einem gerade geht, das Fenster zu öffnen, ein Glas Wasser zu trinken, Schultern zu rollen, sich etwas zu bewegen, das Gesicht zu reiben, etc. Viele Klienten berichten mir, dass sie durch diese kleine Maßnahme abends weniger erschöpft und ausgelaugt sind.
Nach meiner Beobachtung entsteht der größte Stress dadurch, dass Hochsensible ständig versuchen, sich den normalsensiblen Rhythmen und Verhaltensweisen anzupassen.
Wir in Mitteleuropa leben in einer extravertiert orientierten Gesellschaft und die Lebens- und Arbeitsrhythmen sind von und für Normalsensible eingerichtet worden. Das hat zur Folge, dass das Tempo, was allerorten erwartet wird, von Hochsensiblen als sehr stressig empfunden wird, sie aber dennoch versuchen, sich dem anzupassen. Die Folge: Erschöpfung und ein ständig überreiztes Nervensystem.
Dem gilt es, entgegen zu steuern, indem sich Hochsensible bewusst machen, dass sie durch ihre Veranlagung einen anderen Rhythmus brauchen und dies auch, soweit möglich, in ihren Alltag einbauen. Stille Einkehr, regelmäßige Retreats oder Exerzitien helfen dabei.
Man muss sich aber auch nicht von den allgegenwärtigen Stressoren und der eigenen Veranlagung ins Bockshorn jagen lassen: Durch gezielte Übungen ist es beispielsweise möglich, die Lärmtoleranz zu erhöhen und die Komfortzone zu erweitern. Es wird wahrscheinlich nie so sein, dass man ein Techno-Konzert bis in die frühen Morgenstunden mitmachen kann, ohne mit Migräne oder übermäßiger Erschöpfung zu reagieren, aber für ein bis zwei Stunden vielleicht schon. Das beugt der sozialen Isolation vor.
Hochsensibilität und Resilienz
Es wird oft davon berichtet, dass Hochsensible wenig resilient seien. Nach meiner Erfahrung verhält es sich aber nicht so. Wohl kann man den Eindruck gewinnen, dass hochsensible Menschen täglich reizempfindlich und gestresst sind; sie scheinen stets bestimmte Bedingungen zu brauchen, um den Alltag zu bewältigen. Gleichzeitig lässt sich aber auch beobachten, dass sie in einer echten Krise sehr präsent sind und wissen, was zu tun ist.
Mir kommt da eine Geschichte in den Sinn, die mir vor Jahren einmal erzählt wurde: Das Baby eines Paares erlitt einen Fieberkrampf, war nicht ansprechbar und wirkte wie tot. Der Vater (normalsensibel) stand buchstäblich hilflos da und wusste nicht, was tun, während seine hochsensible Frau alle nötigen Schritte in die Wege leitete. Mir scheint, dass Hochsensible vielleicht alltäglich über eine geringere Resilienz zu verfügen scheinen, in Krisenzeiten jedoch über eine sehr gute.
Jemand, der alltäglich Reizüberflutungen erlebt, lernt auch, das irgendwie zu managen und dass das Leben trotzdem funktioniert.
Die meisten Hochsensiblen haben eine Familie, einen Arbeitsplatz, leben in gesicherten Verhältnissen und haben wenige, aber gute Freunde. Sie sind also durchaus widerstandsfähig und verfügen über eine große Kraft, meistens, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Mein Fazit: Wie sich die neutrale Veranlagung Hochsensibilität im Erwachsenenalter zeigt, hängt von den biografischen Erfahrungen ab. Die Tendenz zur erhöhten Stressempfindlichkeit besteht, kann aber deutlich reguliert werden durch das Einüben eines stimmigeren Rhythmus zwischen An- und Entspannung. Hochsensible verfügen grundsätzlich über eine gute Resilienz. Sie benötigen viel Bewusstsein über sich selbst und sollten sich von ihrer Veranlagung nicht einschüchtern lassen. Es ist sehr gut möglich, hochsensibel zu sein UND ein erfülltes Leben zu führen.
Ich schließe mich dem französischen Schriftsteller Charles Baudelaire (1821–1867) an, der einmal gesagt hat: »Man soll niemandes Sensibilität verachten, eines jeden Sensibilität ist sein Genie.«