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Das medienmündige Kind…

– von Nikolaus Franke

… gibt es nicht. Doch es gibt medienmündige Erwachsene. Und genau zu solchen sollen unsere Kinder einmal werden. Doch wie? Dazu im Folgenden einige Anregungen zum Weiterdenken.

Das Konzept der Medienmündigkeit
Die Erziehungswissenschaftlerin Paula Bleckmann hat das Konzept »Medienmündigkeit« entwickelt. Ausdrücklich handelt es sich nicht um Medienkompetenz. Als medienkompetent stellen wir uns jemanden vor, der technisch versiert mit Medien und digitaler Technik umzugehen weiß. Hier stehen die Fertigkeiten an vorderster Stelle. Der Aufbau von diesen Fertigkeiten erfordert in der Regel, sich auch mit Medien auseinanderzusetzen – ganz im Sinne von: »Früh übt sich, wer ein Meister werden will.«

Schaut man sich unter den digital affinen Erwachsenen etwas genauer um, stellt man jedoch leichthin fest, dass es manchmal gerade die sehr »medienkompetenten« sind, die zugleich auch einen ziemlich »mediensüchtigen« Eindruck machen. Daher hat Paula Bleckmann »Medienmündigkeit« als unversöhnlichen Gegenbegriff zur Mediensucht eingeführt:
»Medienmündigkeit ist zuvorderst die Fähigkeit eines Menschen, selbst darüber zu entscheiden, welchen Anteil seiner Zeit er zum Erreichen seiner Ziele und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse überhaupt mit Bildschirmmedien verbringen und damit anderen Tätigkeiten entziehen möchte. Zugleich ist mit Medienmündigkeit die Fähigkeit gemeint, aktiv, dosiert, kritisch reflektierend und technisch versiert Medien nutzen zu können. Kurz: Medienmündigkeit bedeutet, dass ein Mensch die Medien beherrscht und nicht umgekehrt.«

Die Voraussetzungen von Medienmündigkeit
Medienmündigkeit setzt voraus, Entscheidungen nicht primär emotional zu treffen, sondern emotionale Motive mit rationalen Motiven in Deckung zu bringen.

Medienmündigkeit lebt davon, überhaupt vernünftige Lebensziele formulieren zu können, planend tätig zu sein, sich reflektieren und sich selbst »lesen« zu können.

Wie man leichthin sieht, kann man von Kindern und Jugendlichen entwicklungsbedingt kaum erwarten, sich selbst reflektieren und steuern zu können. In diesem Sinne vollumfänglich medienmündig können sie gar nicht sein. Und selbst wenn sie es wären, würden sie vermutlich häufig auf »mündige Weise« dennoch sehr dumme Entscheidungen treffen: »Zocken statt Abendbrot«, »Streaming statt Hausaufgaben«…

Deswegen sind Kinder auf zwei Dinge angewiesen:

  • Erstens: Sie brauchen Erwachsene in ihrer Umgebung, die den digitalen Kosmos für sie vorentlasten, indem sie ihn mit Halt, Struktur, Vorauswahl und Begrenzung absichern.
  • Zweitens: Sie benötigen Erwachsene, die in ihnen die Voraussetzungen von Medienmündigkeit schaffen und sie damit auf ein Leben in der digitalen Menschheitsepoche vorbereiten.

Und wir dürfen uns sicher sein, dass sie diese Fähigkeiten nicht primär an Medien selbst lernen. Wir können uns das eher wie sieben »Konten« bzw. Reservoirs der Persönlichkeit vorstellen mit »sieben Währungen«. Macht euch als Eltern gern einmal bewusst Gedanken, wie gut diese sieben Reservoirs bzw. Währungen gefüllt sind bzw. wie ihr eure Kinder hier fördern könnt.

1. Bindungssicherheit, Welt- und Selbstvertrauen:
Wer sich auf andere und die Welt einlassen kann, braucht keine Technik, um vor jener Welt zu entfliehen oder um Kontakt zu anderen herzustellen. Wer sich selbst vertraut und eine gesunde Eigenliebe mitbringt, grenzt sich von unguten Dynamiken eher ab und lässt sich auf die Entwicklungsaufgaben des Lebens ohne pauschales Erwarten von Misserfolg ein.

2. Emotionsregulation:
Wer seine Gefühle regulieren kann, braucht keine externen Tröster und Dämpfer.

3. Volition:
Die wichtigste Ressource für Lebenserfolg ist Volition. Volition ist die »Umsetzungsstärke« des Willens gegen den inneren Schweinehund und gegen Ablenkungen. Die Volition eines Kindes wird mit darüber entscheiden, ob es später:

  • keine Sucht entwickelt
  • nicht ins Gefängnis kommt
  • einen Bildungsabschluss/berufliche Qualifikation erlangt
  • ein vernünftiges Einkommen erzielt
  • stabile Partnerschaften/Familien aufbaut und aufrechterhält
  • am Glauben auf eine aktiv-nachfolgende Weise festhält
  • in einer Kirche verlässlich mitarbeitet

4. Selbsteinfühlung:
Oft wissen Kinder nicht genau, wie es ihnen geht und was sie brauchen. Vielen Süchtigen geht es ganz ähnlich. Sie haben kaum gelernt, nach innen zu horchen und die eigene Innerlichkeit mit ihren Nöten zu verstehen und konstruktiv zu bewältigen. Daher ist es so wichtig, zu lernen, unter die Wasseroberfläche der Innerlichkeit mit einem inneren Periskop zu schauen: Was fühle ich? Wie geht es mir? Was bewegt mich? Was brauche ich wirklich?

5. Kontaktfreude & Beziehungskompetenz:
Suchtentwicklung geht sehr häufig ursächlich ein Beziehungsproblem vorweg. Suchtursachen entstehen in Beziehungen und Sucht selbst chronifiziert sich aufgrund von Beziehungslosigkeit. Ihre Dynamik führt nahezu immer aus gesunden Kontakten heraus. Deswegen ist eine unverbrüchliche Freude an zwischenmenschlichen Kontakten sowohl ein Schutzfaktor gegen die Entstehung von Süchten als auch ein Traktor heraus aus einer entstandenen Sucht.

6. Freude & Lebendigkeit:
Damit sind wir bei einem Grundproblem: negative Emotionen. Fast allem exzessiven Medienmissbrauch und jeder Sucht geht eine negative Affekt-Spannung voraus: Unlust, Phlegma, Schmerz, Wut, Angst, Traurigkeit, Gefühllosigkeit oder Stumpfheit. Kinder, deren Grundgefühl im Leben lautet: »Ich bin froh und liebe es, lebendig zu sein.«, werden viel unwahrscheinlicher digitale Thrills und Stimmungsaufheller brauchen. Wie kann die Freude reichlich »im Herz« und »im Alltag« deiner Kinder wohnen?

7. Lust auf Reifung & Bewährung:
Der Mensch hat einen universalen Bewährungsdrang – ganz besonders Jungs. Wir lieben es, unsere Tüchtigkeit und Eignung zu beweisen – in der uns individuell eigenen Weise und im Rahmen unserer Talente. Digitale Tools locken uns nicht selten dann besonders, wenn wir entweder das Gefühl haben, der Alltag bietet uns keine substantiellen Chancen auf Reifung und Bewährung, oder aber wir haben Angst davor, uns auf reale Bewährungs- und Reifungschancen einzulassen.

Macht euch als Eltern gern einmal bewusst Gedanken, wie gut diese sieben Reservoirs gefüllt sind bzw. wie ihr eure Kinder hier fördern könnt.

Medien altersgemäß nutzen: Der entwicklungssensible Zugang
Der return-Ansatz schaut vor dem Hintergrund der Entwicklungsreife und Entwicklungsaufgaben auf den digitalen Alltag. Daraus lassen sich grob vier Etappen formulieren.

1. Etappe: Kindheit (0-8)
Voraussetzungen fördern, digitale Medien minimieren, Lebenskultur feiern

Für Kleinkinder gilt: Am besten nutzen weder sie (»Foreground Exposition«) noch die mit ihrer Aufsicht befassten Eltern digitale Geräte (»Background Exposition«). Für Kinder im Kita und Grundschulalter gilt: Am besten nutzen sie digitale Medien so wenig wie möglich. Warum? Die oben beschriebenen sieben Voraussetzungen füllen sich ausdrücklich nicht, wenn Kinder digital Zeit verbringen, sondern werden leider dadurch tendenziell immer leerer. Das gilt besonders für die Volition, die wir als Kraft des inneren Willens für eine der mächtigsten und schönsten Stärken des Menschseins halten (vgl. Sprüche 25,28: »Wie eine Stadt mit aufgebrochenen Mauern, so ist ein Mann ohne Selbstbeherrschung.«).

Wenn Kinder digitale Medien nutzen, ist es wichtig, dass es klare, kontinuierlich gültige Absprachen gibt.

Es hat sich bewährt, bestimmte Geräte grundsätzlich nicht zur Verfügung zu stellen, damit sie gar nicht erst als »Spielgerät« bzw. »Beruhigungsmittel« kennengelernt und besetzt werden. Es kann dann aber eben ein bestimmtes Gerät geben, das als »Genussmittel« bzw. »Kinderkino« etabliert wird – und zu bestimmten Zeiten auch einmal rausgeholt und dann wieder weggepackt wird. In jedem Fall ist es wichtig, den unbeaufsichtigten Konsum zu minimieren. Diese Aufsicht sollte digital (durch Elternsoftware) als auch analog (durch Präsenz und Anteilnahme) gelebt werden.

2. Etappe: Prä-Pubertät (9-12)
Begrenzen, schützen, ablenken

Klare, nicht ständig neu verhandelbare oder von Eltern willkürlich geänderte Medienregeln haben sich als Schutzfaktor gegen Mediensucht erwiesen. Kommt als Familie weg vom »Medien-Nutzungszeit-Basar«. Auch in diesem Alter bewährt es sich, wenn man zwischen Kommunikationsgerät (Familientelefon, Familien-WhatsApp), Arbeitsmittel (Tablett, Schulcloud) und Genussmittel (Social Media, YouTube, Gaming, Serien, Konsole) strikt trennt. Das kann auf ein und demselben Gerät durch Nutzungskonten eingeführt werden oder, besser noch, durch verschiedene Geräte besetzt werden.

In diesem Alter sollte man von Kindern noch nicht erwarten, sich selbst an Absprachen halten zu können.

Sätze wie »Ich vertraue dir, dass du damit gut und selbstbestimmt umgehst.« gehören in Gespräche mit älteren Jugendlichen und nicht mit Teenagern, die eben im Bereich jener Selbststeuerung leider häufig entwicklungsbedingte Aussetzer haben. Halten diese dann die gegebenen Versprechen nicht ein, entsteht Scham und sie trauen sich aus Angst vor Sanktion nicht, mit Eltern zu sprechen – auch dann nicht, wenn inzwischen dicke Probleme aufgetreten sind. Wir meinen das wirklich ernst: Ein »Zu viel von Vertrauen« in die Selbststeuerungsfähigkeit des Heranwachsenden führt häufig nicht in eine konstruktive Auseinandersetzung, sondern bewirkt Überforderung, Scheitern, Scham und Geheimnisse – und manchmal teure Rechnungen und handfeste Grenzverletzungen.

Hinzu kommt: Unsere Kinder werden in diesem Alter vermutlich durch Gleichaltrige mit Pornografie, Gewalt, Mobbing und unangemessenen Spielen in Kontakt kommen. Hier sollten wir bewusst das Gespräch vorher suchen und Schutzmechanismen für daheim und »auswärts« beibringen (»Wenn dir einer Bilder von nackten Leuten zeigt, sag ganz klar: Das machst du sofort aus. Sonst gehen wir zum Lehrer.«). Eine grundsätzliche Haltung des »Mit mir als Elternteil kann man stressfrei über alles reden.« ist bei Medien besonders wichtig.

3. Etappe: Pubertät (13-14)
Begleiten, erklären, vorbereiten, probeweise zur Verfügung stellen, Interesse haben

Von der Entwicklungsperspektive aus betrachtet würden wir Eltern eher raten, in dieser Altersphase den Kindern möglichst noch immer kein »eigenes Smartphone« zu kaufen, sondern ein »Familiensmartphone« begrenzt zur Verfügung zu stellen. Das schließt ein, dass wir im Gespräch bleiben und wir dem Kind eine faire Chance auf Bewährung geben.

Medienmündigkeit wird angewöhnt und trainiert, bevor sie verlangt wird.

Dies nennen wir das »Begleiten und Vorbereiten«. Der Fokus sollte hier auf den Entwicklungsaufgaben und Hobbys des Jugendalters liegen und die digitalen Freunde im Rang eines Hobbys kultiviert werden.

Die digitalen Welten der Kinder finden leider regelmäßig unter dem Vorzeichen von elterlicher Abwertung statt (»Du und deine doofen Ballerspiele!«, »Du bist doch TikTok-süchtig!«). Starten Eltern ihre Reise weniger beim Appell und beim Urteil, sondern stärker beim Interesse und Stehenlassen, etablieren sie sich als tatsächlicher Gesprächspartner, der auch in seiner Meinung, seinen Interessen (»pünktlich zum Essen kommen«, »Schule nicht vernachlässigen«) wesentlich ernster genommen wird.

Nur so bekommen Eltern überhaupt die Chance, auf Manipulationen, Marketingtricks und Suchtgefahren aufmerksam zu werden. Dann können sie ihre Kinder dafür sensibilisieren, wo sie selbst noch zu wenig Einordnungswissen haben. Über dieser Phase steht das »Vorbereiten auf ein Leben in Mündigkeit und Verantwortung«.

4. Etappe: Adoleszenz (15-20)
Sensibilisieren, senden, konfrontieren

Bei den 15- bis 20-Jährigen gilt es einerseits, den Pfad in Richtung Erwachsenwerden zu fördern (Körperannahme, Schulabschluss, romantische Beziehungen, Berufsorientierung, Loslösung, Konsumentenreife, ethisch-moralisches Urteil, Sinnfragen in Religion und Politik, Einlassen auf die Welt). Dort wird das Spiel entschieden. Es ist wichtig, dass Eltern auch irgendwann bestimmte »Versorgungsleistungen« zurückfahren.

Parallel dazu treten Eltern mehr und mehr in den Rang eines Gesprächspartners auf Augenhöhe. Dieser Gesprächspartner unterstellt nun dem Gegenüber vorhandene Medienkompetenz und sensibilisiert, konfrontiert und sendet in die Recherche. Denn der sich entwickelnde Mensch ist eben noch immer angewiesen auf Irritationen seines »Systems« durch Informationen und Perspektiven von außen. Wenn hier alles nichts weiterhilft, kann das auch bedeuten, den Kontakt mit einer Suchtberatungsstelle aufzubauen.

Wenn Eltern mit ihren Kindern regelmäßig in Beziehung sind, auch das eigene, elterliche Onlinenutzungsverhalten vor ihren Kindern als »Gestaltungsbereich« kommunizieren, machen sie sich selbst zu einem Modell, an dem das Kind lernt, dass wir Menschen es sind, die immer wieder den Medien als Instrument ihren Platz im Konzert unseres Alltags zuweisen – aber um keinen Preis der Welt bereit sind, ihnen den Posten des Dirigenten zu überlassen.

return gGmbH

  • begleitet in der Region Hannover und darüber hinaus seit 15 Jahren Menschen bei problematischer Mediennutzung in Beratung und Therapie
  • führt bundesweit Bildungsveranstaltungen in Schulen, Gemeinden und Einrichtungen der Sucht- und Jugendhilfe durch
  • erstellt medienpädagogische Materialien und Konzepte, u. a. »Fit for Love?« – eine bindungsorientierte Sexualpädagogik zur Prävention von jugendlichem Pornografiekonsum und sexueller Gewalt

weitere Infos: www.return-mediensucht.de

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