Ein Leben mit Handicap
– von Tanja Hutschenreuter
Soraya Krohn ist 35 Jahre alt, Ärztin und durch einen Unfall seit 2014 auf einen Rollstuhl angewiesen. Tanja Hutschenreuter führte mit ihr ein Interview, um herauszufinden, wie sie nun ihr Leben gestaltet.
Tanja: Liebe Soraya, wie bist du nach dem Unfall mit der großen Veränderung in deinem Leben umgegangen?
Soraya: Wenn ich heute hier an meinem Küchentisch sitze, über die vergangenen Jahre nachdenke, merke ich wieder, wie unheimlich dankbar ich Gott bin. Dass ich leben und das Leben genießen darf. 2014 sah alles ganz anders aus. Ich hatte einen schweren Unfall und danach war nichts mehr wie zuvor. Ich fand mich in einem Krankenhaus auf der Intensivstation wieder. Nachdem ich benommen aufwachte, wurde mir bewusst, dass ich meine Beine weder spüren noch bewegen konnte. Das erste, was ich an diesem Tag wahrnahm, war mein Bettnachbar, der immer wieder fragte: »Bin ich jetzt im Himmel?«
So startete ich in einen neuen Abschnitt meines Lebens. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass ich die nächsten eineinhalb Jahre im Krankenhaus verbringen sollte. Ich hatte in der ganzen Zeit zahllose Komplikationen und auf eine Operation folgte die nächste.
Nun könnte man denken, dass ich durch die Umstände verzweifelt oder verbittert geworden wäre. Es gab natürlich Tage, an denen ich sehr traurig über das Geschehene war, aber es gab etwas, was mich durch die ganze schwere Zeit immer und ohne Unterlass begleitet hat und das war Gott. Durch ihn bekam ich Kraft, nach vorne zu blicken, durch ihn hatte ich Freude in der Therapie und durch ihn hatte ich Mut, mein neues Leben in die Hand zu nehmen. Er zeigte sich immer wieder in kleinen Dingen und war da, als ich Rückschläge erlebte. Zum Beispiel schickte er mir liebe Menschen, die mit mir weinten. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie meine beste Freundin und ihr Mann mich besuchen kamen, er seine Gitarre nahm und das Krankenhauszimmer mit Lobpreis erfüllte. Für ein paar Stunden sangen wir Lieder und beteten gemeinsam. Das gab mir sehr viel Kraft und stärkte mich.
Man muss dazu sagen, dass ich vor dem Unfall Jesus nicht kannte und durch die Umstände erst zu ihm gefunden habe. In der Klinik gab mir zum Beispiel ein Pfleger das Buch »Die Hütte« und ich verschlang es. So machte ich mich nach und nach auf die Suche nach Gott.
Auch meine Familie half mir durch die ganze Zeit. Sie waren immer für mich da. Mein Vater unterstützte mich, wo er nur konnte. Er las nächtelang Artikel über die neuesten Therapiemöglichkeiten und stellte sie mir mit Enthusiasmus vor.
Ein weiteres Wunder war der Zusammenhalt mit den Mitpatienten. Selbst das Pflegepersonal machte uns darauf aufmerksam, dass sie noch nie so ein gutes Miteinander unter Patienten gesehen hätten. Wir waren gegenseitig füreinander da, brachten uns Dinge bei und stärkten uns an Krisentagen.
Tanja: Wie ging es nach dem Krankenhaus-Aufenthalt weiter?
Soraya: Nach den eineinhalb Jahren im Krankenhaus folgte dann der Sprung ins reale Leben. Plötzlich war ich die einzige im Rollstuhl und nicht mehr umgeben in einem Schutzraum von anderen Rollstuhlfahrern und Verbündeten. Ich erinnere mich an Menschen auf der Straße, die mich aus Überforderung anstarrten. An die ersten Versuche, selbst mit dem Rollstuhl im Straßenverkehr klar zu kommen. An zu hohe Bordsteinkanten, unüberwindbares Kopfsteinpflaster und an die Furcht, mit dem Rollstuhl umzukippen. Aber auch diese Aufgaben konnte ich meistern.
Ich habe immer weiter gemacht und nicht aufgegeben.
Zum Beispiel hatte ich 2016 den Wunsch, mein Medizinstudium abzuschließen und ging alleine zurück an meinen Studienort in Dresden. Ich weiß noch, wie mich meine Eltern am Umzugstag begleiteten und ich dann plötzlich allein in meinem Pensionszimmer war und irgendwie klarkommen musste.
Früh um vier begann mein Tag und ich machte mich fertig für die Arbeit. Damals dauerte das noch eineinhalb Stunden. Dann kam der Arbeitsweg – die nächste Herausforderung. Ein Berg mit einem unebenen Weg und danach das selbstständige Ein- und Aussteigen in den Stadtbus. Die ersten Versuche scheiterten und ich fiel sowohl einmal nach vorne als auch einmal hinten aus dem Rollstuhl heraus. Aber ich hatte immer Hilfe von Passanten und machte weiter. Durch die phänomenal gute Unterstützung meines Studiendekanats konnte ich mein Praktikum in Dresden im Klinikum beenden.
Und wieder fand ich in diesem ganzen Prozess Kraft und Hilfe durch Gott. So fand ich Stück für Stück mit Höhen und Tiefen ins neue Leben und bin bis heute in einem Prozess.
Tanja: Welchen Einfluss hatte und hat dein neues Leben auf deine Beziehungen?
Soraya: Auch meine Beziehungen wurden natürlich durch den Unfall geprägt. Ich habe erfahren, wer in dieser schweren Zeit immer hinter mir stand und bin jedem einzelnen Freund/jeder Freundin unglaublich dankbar, der mich auf meinem Weg unterstützt hat. Ich habe erfahren, was tiefe Freundschaft bedeutet, nämlich immer füreinander da zu sein, auch wenn es gerade nicht lustig und leicht ist, sondern schwer und traurig. Viele Beziehungen sind dadurch noch enger geworden. Aber ich habe auch gesehen wie Freundinnen nicht mit der Situation umgehen konnten und sich Stück für Stück entfernt haben.
Tanja: Gibt es manchmal Situationen in deinem Leben, wo Menschen ungefragt in deine Selbständigkeit wegen des Handicaps eingreifen? Was löst dies bei dir aus? Was wünschst du dir?
Soraya: Immer wieder gibt es Situationen in meinem Leben, in denen Menschen ungefragt eingreifen, was ich wirklich schade finde. Ich möchte einfach Teil der Gesellschaft sein, ohne anders behandelt zu werden und vor allen Dingen, ohne bemitleidet zu werden. Aber die meisten Menschen wissen aus Unsicherheit nicht, mit einer Rollstuhlfahrerin umzugehen.
Meine Physiotherapeutin sagte mal zu mir: »Wir haben alle eine Behinderung. Bei dem einen sieht man sie, bei dem anderen sieht man sie nicht.« Und genau so ist es auch, eine (Be-)Hinderung im Leben haben alle Menschen. Es ist nur die Frage, wie wir mit anderen und ihrer (Be-)Hinderung umgehen.
Das schlimmste sind für mich Menschen, die plötzlich ungefragt aus dem Nichts meinen Rollstuhl schieben. Das ist nicht nur gefährlich, weil ich durch das plötzliche Schieben nach vorne aus dem Rollstuhl fallen kann, sondern gibt mir auch das Gefühl, unmündig zu sein. Es entscheidet einfach jemand über mich, ohne vorher nachzufragen. Das finde ich total übergriffig.
Ich erinnere mich auch an Situationen, in denen Menschen nicht direkt mit mir sprachen, sondern über mich, mit der Person, die mich begleitet hat. Obwohl ich genau danebenstand und sie einfach mit mir selbst hätten sprechen können. Das gibt mir auch das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.
Ich würde mir wünschen, dass Menschen einfach offen mit Personen mit Handicap umgehen würden und mehr Mut hätten, in gewissen Dingen ohne Schamgefühl nachzufragen.
Alle Fragen, die ich nicht beantworten möchte, muss ich nicht beantworten, aber für alle anderen Fragen bin ich sehr dankbar.
Tanja: Wie ergeht es dir damit, Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Soraya: In den ersten Jahren musste ich auch erstmal lernen, für gewisse Dinge Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies ist mir nicht immer leicht gefallen, da ich eine Person bin, die gerne unabhängig ist und alleine klarkommen möchte. Doch von Zeit zu Zeit ist es nötig, sich auch mal helfen zu lassen und ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, nicht immer stark sein zu müssen. Manchmal muss ich eine Bordsteinkante hochgezogen oder getragen werden, wenn gerade mal wieder der Aufzug in meinem Haus kaputt ist. Mittlerweile macht es mir auch nichts mehr aus, fremde Menschen um Hilfe zu bitten, wenn ich unterwegs bin und ein unüberwindbares Hindernis erscheint.
Tanja: Kannst du dein Leben mit diesem Handicap akzeptieren?
Soraya: Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich allen Menschen nur Mut machen kann, in jeder Situation und egal wie aussichtslos auch alles gerade scheint, auf Gott zu vertrauen.
Ich bin restlos davon überzeugt, dass ich an dem Tag des Unfalls gerettet worden bin und ich eine neue Chance bekommen habe, mein Leben zu leben.
So kann ich auch mit den Hausforderungen des Handicaps klarkommen. Mir ist es wichtig, nicht auf das zu schauen, was ich nicht mehr kann, sondern das zu sehen, was möglich ist. Klar werde ich auch manchmal ausgebremst, zum Beispiel im Sommer, wenn alle Menschen einfach im See baden gehen können. Dann war es mir nicht möglich, ins Wasser zu gelangen. Aber nun habe ich einen Wasserrollstuhl und kann mittels dieses speziellen Rollstuhls ins Wasser gefahren werden. So fand sich wieder eine Lösung. Durch das Handicap habe ich auch eine neue Sicht auf das Leben bekommen und hinterfrage Dinge jetzt ganz anderes.
Es gibt Höhen und Tiefen im Leben aber es lohnt sich, jede einzelne zu leben. Denn alles hat seinen Sinn.