Jetzt spenden

Kinder und Eltern in Bewegung

– von Sonja Brocksieper

Erziehung ist kein starres Programm, sondern eine gemeinsame Reise mit den Kindern, die auf Seiten der Eltern immer wieder Flexibilität und Offenheit für Neues erfordert. Wenn Eltern sich darauf einlassen, können alle viel gewinnen.

Die gesamte Kindheit und Jugendzeit ist von Entwicklung geprägt. In den ersten Monaten sind die Veränderungen, die ein Baby durchläuft, immens. Innerhalb kürzester Zeit wird aus einem hilflosen Neugeborenen mit unkoordinierten Bewegungen ein kleiner Krabbler, der die Welt mit allen Sinnen erkundet.

Jeden Tag lernt ein Kind hinzu, erwirbt neue Kompetenzen und baut die Interaktion mit seiner Umgebung aus. Diese Entwicklung können Eltern unterstützen und fördern, indem sie ihren Umgangsstil anpassen. Zu Beginn des Lebens sind sie rund um die Uhr damit beschäftigt, ihr Kind mit Nahrung, Wärme, einer sauberen Windel und Zuwendung zu versorgen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie stark in den ersten Lebenswochen meiner Kinder in mir das Bedürfnis war, immer in der Nähe meiner Babys zu sein, um zu spüren, was sie brauchen.

Genau darauf sind Babys angewiesen. Ein Neugeborenes kann seine Bedürfnisse zwar zum Ausdruck bringen, aber noch nicht eigenständig für die Bedürfnisbefriedigung sorgen. Deswegen ist es so wichtig, dass Eltern ganz nah bei ihren Kindern sind und auf diese Bedürfnisse zeitnah reagieren. Doch wäre es fatal, wenn diese am Anfang so wichtige und lebensnotwendige Nähe ein starres, unbewegliches System bliebe.

Raum für wachsende Eigenständigkeit
Wenn ich meinem Krabbelkind jedes Hindernis aus dem Weg räume, meinen Vierjährigen jeden Abend mit Babybrei füttere, meiner Sechsjährigen den Popo abputze oder meinem Vierzehnjährigen die Klamotten morgens raus lege, läuft irgendwas schief. Ich bin mir sicher, dass kein Vater und keine Mutter eine solche Unselbstständigkeit fördern möchte, und doch ist es für viele Eltern nicht immer ganz leicht, bewusst die Entwicklungsschritte ihrer Kinder wahrzunehmen und ihnen ein bisschen mehr zuzutrauen, sodass wirkliche Reifung möglich ist. Allerdings werden Kinder ohne Freiräume nicht in ein eigenständiges Leben geführt.

Kinder haben nicht nur das Bedürfnis nach Nähe und Unterstützung, sondern auch das nach Autonomie. Je älter sie werden, desto mehr.

In unserem »Familien stark machen«-Basistag machen wir mit einer einfachen Grafik deutlich, wie Eltern diesem Bedürfnis nach Autonomie gerecht werden und in der Begleitung ihrer Kinder beweglich sein können.

Während der Freiraum und die Verantwortung (durchgezogene Linien) im Leben eines Kindes stetig mehr Raum einnehmen, sollten die elterliche Einflussnahme und Begleitung (gestrichelte Linien) Schritt für Schritt abnehmen – mit dem Ziel, dass Eltern ihren erwachsenen Kindern die gesamte Verantwortung übertragen und nur noch eine begleitende Rolle einnehmen, wenn das von den Kindern gewünscht ist. Darin steckt die Herausforderung, sich als Eltern von Anfang an auch auf das Loslassen vorzubereiten – in den ersten 14, 15 Jahren ganz langsam, dann aber immer schneller. Denn spätestens Teenager wollen nicht mehr als unmündige Kinder behandelt werden, sondern brauchen Eltern, die ihnen Freiheit geben und eigene Entscheidungen zutrauen.

Loslassen wagen
Es ist durchaus verständlich, dass es schwer fällt, in der Teenagerzeit eine neue Rolle, die mehr von Begleitung als von Erziehung geprägt ist, einzunehmen. Jahrelang waren Eltern es gewöhnt, ihre Kinder zu versorgen, zu bewahren und ihnen einen guten Rahmen vorzugeben. Das Schulbrot wurde geschmiert, die Hausaufgaben kontrolliert, ans Vokabellernen erinnert, die Wäsche gewaschen.

Manch einer verpasst allerdings den Zeitpunkt, all diese Aufgaben Schritt für Schritt zu übergeben und Verantwortung zu übertragen. Oft aus Angst, dass es ohne Unterstützung nicht läuft. Und ja, es kann tatsächlich passieren, dass mehr Freiheit dazu führt, dass die nächste Klassenarbeit verhauen wird und ein Teenager am nächsten Tag nicht ausgeschlafen ist, weil er zu lange wach war. Aber wenn wir unseren Teenagern diesen Erfahrungsspielraum nicht lassen, können sie nicht lernen.

Hinfallen gehört dazu! Sind wir dann an der Seite unserer Kinder, können sie wieder aufstehen und weiter laufen.

Das gilt für die Einjährigen, die die ersten Schritte machen, genauso wie für unsere 16-Jährigen, die selbst dafür gerade stehen müssen, wenn sie nicht genügend für die Schule gelernt oder eine Abgabefrist versäumt haben. Wie schön wäre es, wenn wir genauso stolz über das sein können, was unser Teenager ganz allein geschafft hat, wie über sein erstes Lächeln und seine ersten Schritte?

Alles hat seine Zeit
In der Bibel gibt es eine sehr schöne Aussage dazu: »Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist.« (Prediger 3,1) Wir können unsere Kinder nicht festhalten. Als Eltern können wir sie eine Zeit lang begleiten und ihnen feste Wurzeln mitgeben und dann ist es an der Zeit, dass wir sie ihr Leben selbstständig gestalten lassen.

Deswegen möchte ich Eltern sehr ermutigen, in Bewegung zu bleiben und sich auf die Entwicklungsschritte ihrer Kinder einzulassen. Manchmal hilft es, in die eigene Entwicklung zu schauen und sich daran zu erinnern, wie man das selbst als Kind und Jugendlicher empfunden hat. Viele sagen, dass sie sich von ihren Eltern einen Vertrauensvorschuss gewünscht haben. »Du schaffst das schon. Du wirst es gut machen.« Wenn wir unseren Kindern das zusprechen, befähigen wir sie zum Leben und machen Entwicklung möglich!

Ich habe mir als Mutter immer wieder vorgenommen, die verschiedenen Phasen mit meinen Kindern bewusst zu gestalten. Auch wenn es manchmal anstrengend war, mich abends nochmal zu einem Kind ins Bett zu kuscheln, weil es nicht einschlafen konnte, versuchte ich, es als kostbare Zeit wahrzunehmen. »Irgendwann sind sie groß und wollen nicht mehr kuscheln. Also freue ich mich jetzt über die Kuschelzeit.« Heute sind diese Kuschelzeiten vorbei. Das ist schade, aber dafür habe ich wieder mehr Freiheit und genieße tiefgehende Telefonate mit meinem Sohn, der nun in einer anderen Stadt lebt. Ich will an Vergangenem nicht kleben, sondern es als kostbaren Schatz in mir tragen und mich auf das Neue freuen. Alles hat seine Zeit.

Weitere Tipps für Beweglichkeit in der Erziehung
– Behandle deine Kinder nicht gleich! Kinder sind ganz unterschiedlich und haben deswegen auch individuelle Bedürfnisse. Die Erziehungsmethode, die bei dem einen Kind funktioniert, muss beim anderen noch lange nicht die richtige sein.
– Sprich die Liebessprache deines Kindes! Kinder sind auf ganz unterschiedliche Art und Weise für die Liebe ihrer Eltern zugänglich. Vielleicht musst du selbst eine ganz neue Liebessprache lernen.
– Setze dich mit deinen eigenen Reaktionen auseinander! Manchmal können Kinder uns sehr an die eigenen Grenzen bringen und große Ohnmachtsgefühle auslösen. Dann ist es gut, sich die eigene Geschichte genauer anzusehen.
– Bleibe beweglich in deinen Grenzen! Grenzen und Regeln, die eine gewisse Zeit angemessen waren, sollten immer wieder angepasst werden.
– Lass dich hinterfragen! Größer werdende Kinder können richtig gute und kritische Fragen stellen. Manchmal ist es dann auch an der Zeit, die eigene Einstellung oder Meinung zu ändern.

zurück zur Übersicht