– von Veronika Schmidt
Alle reden über Sex – könnte man meinen. Schön wär’s! Sex ist zwar überall, aber darüber sprechen? Fehlanzeige. Das gilt nicht nur, aber vor allem für Menschen in der christlichen Lebenswelt.
„Der Mensch wird auf natürlichem Weg hergestellt, doch empfindet er dies als unnatürlich und spricht nicht gern davon“, sagte Kurt Tucholsky und hat sich vielleicht nicht vorgestellt, dass dies hundert Jahre später immer noch so ist. Damit sich das ändert, sollten vor allem zuerst Erwachsene lernen, Scham, Hemmungen, Vorurteile und rigide Moralvorstellungen zu überwinden, um ein sprachfähiges, authentisches und kompetentes Gegenüber zu sein. In der christlichen Lebenswelt sollte das Thema Sexualität aus einer grundlegend neuen Warte betrachtet werden. Aus einer Warte, die auch dem Leben selbst gegenüber sehr sinnvoll ist: dem Blickwinkel von Verantwortung und Freiheit.
Wie entwickelt sich ein verantwortungsvoller Umgang mit Sexualität?
Die Normen von Gesellschaft, kirchlichen Gemeinschaften, der Partner Sex, die sexuelle Zufriedenheit und die Erziehung und Aufklärung der Kinder und Jugendlichen, alles hängt unmittelbar zusammen. Deshalb verdienen vor allem auch junge Menschen eine umfassende Aufklärung und Identitätsfindung, welche sie dazu befähigt, mündig zu werden. Ich bin nicht nur Therapeutin, sondern auch Sozialpädagogin mit jahrelanger Berufserfahrung. Das prägt meine Sicht, wie Menschen befähigt werden, selbst Verantwortung zu übernehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass aus pädagogischem Zutrauen Mündigkeit entsteht. Nur das führt zu verantwortungsvollem Umgang mit Sexualität. Letztlich geht es darum, wie Sexualität sich entwickelt, sich gestaltet und schön erlebt wird. Es braucht positive, wertschätzende Botschaften zum Leben überhaupt und zur Geschlechtlichkeit des Menschen im Besonderen. Wir müssen Selbstvertrauen und Selbstannahme in großem, lieben den Zutrauen fördern.
Der größte Knackpunkt ist es, nicht einfach nur Biologie weiterzuvermitteln, sondern tatsächlich gesunde Lust und freiheitliche Sexualität.
Es braucht die Vermittlung einer Kultur der Lust, auch der Lebenslust, gepaart mit Verantwortungsbewusstsein.
Keine Angst, das bedeutet nicht, Menschen zu animieren, sich ungehindert sexuell auszuprobieren und auszuleben. Es bedeutet zu ermutigen, sich ganzheitlich zu entdecken und zu erleben: im Einklang mit sich selbst, als Geist-Seele-Körper-Einheit, im Bewusstsein ein von Gott geschaffenes sexuelles Wesen zu sein und selbstverständlich auch ein spirituelles.
Sexuelle Kompetenz zu entwickeln ist viel mehr als einfach Aufklärung
Es geht um die ganze Komplexität von Sexualität. Um die psychosoziale Vorbereitung auf Liebe, Selbstliebe, Selbstakzeptanz und Selbstverantwortung im Zusammenhang mit der Geschlechtsreife und der emotionalen Entwicklung.
Sie bildet sämtliche Faktoren der menschlichen Sexualität ab. Viele denken, wenn die Liebesbeziehung stimmt, wenn man sich liebt, miteinander sprechen kann und man sich gerne berührt und küsst (wenigstens zu Anfang), dann klappe Sex automatisch. Doch dem ist leider nicht so. Ein wichtiger Faktor dafür, ob sich Sexualität positiv entwickelt, sind Normen und Werte und Wissen. Denn die „Bewertung“ von Sexualität entscheidet über die sexuelle Entwicklung in den Bereichen des Körpers und des sexuellen Selbst und ob Sexualität aufblühen kann, allein oder zu zweit. Und darüber ist das Wissen oft nicht vorhanden.
Körpererfahrungen sind ausgesprochen wichtig, damit sich das sexuelle Selbst aufbauen kann. Fühlt es sich gut an, was im Körper passiert und werden diese Vorgänge auch von der sozialen Umgebung positiv bewertet, denkt man automatisch positiv darüber. Wird hingegen negatives Denken zu Sexualität vermittelt, wird das Körperempfinden beeinträchtigt. Der Körper kann/darf Genuss nicht zulassen und es stellt sich Scham ein.
Also lehrt einen der Körper im Umkehrschluss, negativ über Sex zu denken. Klappt es hingegen mit dem Körper, dem Erregungsreflex und dem Erregungsmodus, baut sich darauf die sexuelle Selbstsicherheit auf. Es entwickeln sich sexuelle Fähigkeiten wie: Lust genießen, sich selbst und den anderen erotisch finden, Sex wollen (begehren), sexuelle Fantasien, wissen, was einen sexuell anmacht, sexuell intensiv empfinden. In der Folge gehört man in der Regel auch gerne seinem Geschlecht an.
Zwei Menschen bringen als Paar ihre eigene „sexuelle Person“ und ihren eigenen „sexuellen Körper“ in die Beziehung mit hinein.
Je stärker und gesünder sich die eigene Sexualität entwickeln konnte, desto schöner wird die Paarsexualität.
Nur wer zu seinem Körper und seiner eigenen Sexualität ein unverkrampftes Verhältnis hat, kann unverkrampft darüber sprechen.
Sexualität ist lernbar und daher veränderbar
Sie kann umgelernt und erweitert werden. Das gilt für Menschen, die keinen Spaß an Sex haben oder damit nicht zufrieden sind oder einfach dazulernen möchten. Veränderbar ist nicht nur die Art und Weise, wie man Sex erlebt, sondern auch die Art und Weise, wie man auf sich selbst als sexuelle Person schaut. Ob man sich und seinen Körper auf eine erotische Weise sehen mag und lustvoll erleben kann. Sexualität verändert sich zudem durch die Lebensphasen hindurch und kann immer wieder neu entdeckt werden.