Ein lebenslanger Lernprozess, den du mitgestalten kannst
– von Dr. Ute Buth
Die erfahrene Frauenärztin, Buchautorin, Sexualberaterin und Weißes-Kreuz-Fachberaterin, Dr. Ute Buth gibt uns in diesem Interview einen Einblick in das spannende Thema der sexuellen Lerngeschichte – mit all seinen Herausforderungen und Chancen.
team-f: Was ist eine sexuelle Lerngeschichte und wieso ist sie so wichtig?
Ute Buth: Die sexuelle Lerngeschichte ist quasi das umfassende Verständnis eines Menschen zum Thema Sexualität. Sie ist im Laufe seines Lebens beständig in Entwicklung. In ihren Anfängen beginnt sie quasi schon da, wo wir in neun Monaten im Bauch unserer Mama aus Eizelle und Samenzelle entstanden sind. Schon die erste Zelle ist ja geschlechtlich. Im Mutterleib bilden sich unsere Geschlechtsorgane, die Sinnesorgane kommen in Betrieb, wir sind mit Mama über die Nabelschnur verbunden und bekommen Gefühle von ihr mit. Bei der Geburt erleben die Kinder zum ersten Mal die Berührung ihrer Haut durch einen anderen Menschen. Sie machen erste Erfahrungen in Bezug auf ihre Autonomie, ob sie eher aktiv oder eher passiv sind. Im Laufe des Lebens kommt immer mehr dazu – Sachinformationen, Erlebnisse und Gefühle. Alles wird miteinander verknüpft.
Auf Basis dessen wird wieder Neues eingeordnet. Negative Einzelerfahrungen sollte man dabei nicht pauschal als Schaden für die ganze Lerngeschichte verstehen, auch wenn manche Erfahrungen traumatisierend sein können. Zunächst sind es Mosaiksteine. Ihre Einbettung in die Lerngeschichte
erfolgt in einem Kontext aus Vor und Folgeerfahrungen. Neben der Erfahrung an sich entscheidet auch der Kontext, welche Bedeutung wir ihnen beimessen.
Man erlebt erste Freundschaften, lernt Interaktion mit anderen Menschen … Bis man dann den ersten Freund/die erste Freundin hat oder zum ersten Mal Sex, ist schon ganz viel an Unterbau bzw. Grundverständnis zum Thema Sexualität entstanden.
Sexuelle Lerngeschichten sind so individuell wie Fingerabdrücke.
Es gibt keine zwei gleichen Lerngeschichten auf diesem Planeten, auch wenn Menschen in der gleichen Familie aufwachsen. Vieles wirkt sich auf unsere Sicht von Sexualität aus. Was wir aus der Herkunftsfamilie wissen, die Kultur, in der wir aufwachsen, und sogar der Glaube kann diesbezüglich eine Rolle spielen.
team-f: Was ist beim ersten Mal Sex in Bezug auf die Lerngeschichte wichtig?
Ute Buth: Im Rahmen der Entwicklung unserer Lerngeschichte bauen sich unterschiedliche Erwartungen und Vorstellungen zum Thema Sexualität auf. Der eine ist freudig und aufgeregt und erwartet ganz viel vom ersten Mal, der andere hat womöglich beängstigende Berichte gehört. Ihn beschäftigen daher Sorgen, z. B. vor Schmerzen oder einer ungeplanten Schwangerschaft. Manche sind davon überrumpelt, dass es entgegen ihrer Erwartungen beim ersten Mal mit dem Sex gar nicht klappt, obwohl beide es wollen. Diese „nicht vollzogene Sexualität“, einer meiner Beratungsschwerpunkte, ist leider immer noch ein großes Tabuthema1 und sehr schambesetzt, obwohl es mehr Menschen betrifft, als man denkt.
team-f: Welche Rolle kann die sexuelle Lerngeschichte beim Thema „unerfüllter Kinderwunsch“ spielen?
Ute Buth: Wenn im Fokus eines Paares steht, schwanger zu werden, sind oft drei bis sechs Monate Wartezeit auf ein Baby völlig normal, teils auch länger. Je älter die Frau ist, umso früher untersucht man. Die Fruchtbarkeit der Frauen lässt mit 30 Jahren langsam und mit Mitte 30 deutlich nach. Manche Frauen werden mit Ende 30 noch problemlos schwanger, bei anderen beginnen langsam schon die Wechseljahre. Das ist interindividuell sehr unterschiedlich.
Wenn sich durch einen unerfüllten Kinderwunsch der Fokus des Paares in der Sexualität verständlicherweise sehr auf die Fruchtbarkeit und Fortpflanzung richtet, besteht die Gefahr, dass sie Sex nur noch nach Plan und Kalender haben. Sie versuchen, die fruchtbaren Tage einzugrenzen und schlafen dann „gezielt“ miteinander – ob sie beide Lust haben oder nicht. Dadurch kann eine gewisse Abneigung gegen Sex entstehen. Oder der Reflex, dass sie in Phasen, in denen die Frau nicht fruchtbar ist, auf Sex verzichten, mitunter auch weil sie dessen überdrüssig sind.
Solche Muster können zum Teil über die Zeit des unerfüllten Kinderwunsches hinaus bleiben. Deshalb ist es ratsam, sich als Paar möglichst die Intimität, das Feiern der Zweisamkeit, das Genießen von Erotik und Körperbegegnung zu erhalten. Manche Paare gehen dann sogar schon mal den gegenteiligen Weg und verhüten bewusst für eine Zeit, weil ihnen der Druck einfach zu hoch geworden ist. Länger mit einem unerfüllten Kinderwunsch unterwegs zu sein, ist nicht einfach. Solange die Frau noch fruchtbar ist, ist man ja in einer Art Zwischenzeit, man weiß, „es könnte ja doch noch klappen“. Niemand ahnt vorher, wie lang die Strecke ist. Bei manchen klappt es doch recht schnell und bei anderen ist es sehr zäh. Und in all dem prägen wir durch Verhaltensmuster unsere Lerngeschichte.
Daher ist es ratsam, das Thema möglichst als Paar gemeinsam anzugehen, etwa Bisheriges zu reflektieren und zu schauen, wie man sich in all dem gut aufstellen kann. Bei team-f haben wir das Seminarangebot „Ein unerfüllter Kinderwunsch ist kein Spaziergang“. Dabei geben Mitarbeiter ihre Erfahrungen zum Thema mit Blick auf Identität, Paarbeziehung, Sex, Glaube, Plan B und Abschied vom Kinderwunsch weiter und berichten von Strategien, die ihnen geholfen haben.
team-f: Und wenn es dann mit dem Kinderwunsch geklappt hat, wie ist es mit dem Sex nach einer Geburt?
Ute Buth: Für viele Frauen ist es zunächst herausfordernd, sich nach der Geburt wieder Sex vorzustellen, besonders, wenn sie Geburtsverletzungen davon getragen haben und genäht werden mussten. Deshalb ist es ratsam, nach Geburten vorsichtig vorzu gehen – wie beim ersten Mal – und dass der Partner sensibel auf die Frau eingeht. Das Wochenbett dauert vier bis sechs Wochen und ist speziell dafür da, dass sich der Körper und besonders die Gebärmutter regenerieren.
Beim Sex im Wochenbett sollte man mit Kondom verhüten, weil der Gebärmutterhals noch weiter ist als sonst und so Keime leichter in die Gebärmutter aufsteigen und Infektionen auslösen können. Wichtig ist zudem: Die Frau kann schon bevor sie ihre Tage wieder hatte, erneut schwanger werden. Voll Stillen ist kein absoluter Verhütungsschutz. Wenn sie stillt, ist das natürliche Gleitmittel, das die Frau produziert, meist nicht so stark aufgrund des Hormoneinflusses vorhanden. Wenn Frauen unter der Geburt eine traumatische Erfahrung gemacht haben, kann dies das Thema Sex auch betreffen. Denn mit Sex kann nun die Vorstellung verbunden sein, womöglich erneut schwanger zu werden, mit allem, was das bedeutete. Daher ist es wichtig, ein Geburtstrauma gut zu verarbeiten und Hilfe zu suchen.
team-f: Welche Rolle spielt die sexuelle Lerngeschichte bei der Aufklärung der eigenen Kinder?
Ute Buth: Was wir zum Thema Sex verstanden haben, könnten wir an unsere Kinder weitergeben. Viele Eltern setzen dazwischen aber nochmal einen Filter. Sie beschränken sich auf das, was Kinder ihrer Meinung nach wissen sollten. Etwa, dass Sex zum Zeugen von Babys da ist. Dass Sex Spaß macht, würden sie vielleicht eher weglassen – zum Teil, weil sie Rückfragen fürchten. So verstehen Kinder mitunter sehr wörtlich: „Ok, wir sind drei Geschwister, also hatten Mama und Papa drei mal Sex.“ Sie haben ja nicht erfahren, dass es eine Art ist, wie sich Erwachsene ihre Liebe zeigen, und man nicht immer direkt schwanger wird, wenn man sich ein Baby wünscht. Wenn man selbst keine gute Aufklärung erlebt hat, hat man meist auch keine gute Sprachfähigkeit gelernt.
Vor Jahren habe ich deshalb ein Konzept entwickelt, das Eltern und Pädagogen Mehrwissen vermittelt, damit sie die ihnen anvertrauten Kinder gut aufklären können. Ich habe „Sexualaufklärung – Aufgabe und Chance©“2 bewusst gewählt, um die Teilnehmer ein Stück mitzunehmen, von der manchmal bedrückenden Aufgabe hin zu der besonderen Chance, die sie haben, gute Grundlage für Kinder zu lernen und eine Sprachfähigkeit zu entwickeln. Die fördern beim Thema Sexualaufklärung übrigens eine Win-win-Situation: Für das Kind, weil es eine gute Aufklärung bekommt, aber auch für die Erwachsenen, wenn sie ihr Verständnis von Sexualität reflektieren und damit auch für sich und ihre eigene Sexualität profitieren.
Medienwissenschaftler sagen, dass die Erstinformation prägender ist, als die Folgeinformationen. Wenn Kinder ein gutes altersgemäßes Grundverständnis von Sexualität haben, können sie schräge Folgeinformationen besser einordnen. Nach und nach kann man in einer Art Baukastenprinzip mehr Wissen anbieten.
Gute Aufklärung ist ein Lebensstil und kein Termin!
team-f: Wie können Paare mit sexuellen Schwierigkeiten umgehen und welche Rolle spielt da die Lerngeschichte?
Ute Buth: Im Vorfeld der Partnerschaft, aber auch im Verlauf der Beziehung, können Prägungen der sexuellen Lerngeschichte eine Rolle spielen – bestimmte Abneigungen, aber auch Traumata; genauso wie ungute Erwartungskreise – etwa wenn Schwierigkeiten in der Sexualität aufgetreten sind („Hoffentlich passiert das nicht noch einmal!“).
Dann können innere Sorgen die Regie übernehmen, der Körper ist gestresst und reagiert womöglich mit genau dem Verhalten, das man gern vermeiden wollte.
Besonders wenn ein Paar das Gefühl hat, nicht weiterzukommen, immer wieder an bestimmten Stellen Konflikte entstehen, kann es sehr ratsam sein, sich Beratung zu suchen.
So kann man jemanden fachkompetenten einmal von außen draufgucken lassen. Jeder Fall ist anders gelagert, grundsätzlich aber gilt schon, dass es ratsam ist, sich frühzeitig Hilfe zu suchen, bevor sich ein Problem verfestigt und weitere Rückzugsmechanismen und Verletzungen auslöst. Daher mache ich ausdrücklich Mut, sich Hilfe zu suchen. Vor allem auch, wenn Einschränkungen in der Sexualität da sind (z. B. durch Krankheit und Unfälle).
Manche, für die nicht direkt eine persönliche Beratung vorstellbar ist oder andere, die gern an sich mehr zum Thema Sex lernen möchten, besuchen auch unser Wochenend-Seminar „Sexualität in der Ehe“. Hier muss man keine speziellen Probleme mitbringen und vor allem nicht offenlegen, weshalb man da ist. Nur wer mag, kann über die eigenen Fragen mit Mitarbeitern ins Gespräch kommen. Dieser Gesprächsrahmen unterliegt selbstverständlich der Verschwiegenheit.