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„Das darfst du aber nicht deiner Mama erzählen!“

Wie sexueller Missbrauch die eigene Sexualität beeinflusst

– von Susanne und Johann Scharf

Ich war drei Jahre alt und zu Besuch bei unserem Nachbarn. Da war ich öfter, die Familie war mir vertraut. Aber dieses Mal sagte er diesen komischen Satz zu mir: „Das darfst du aber nicht deiner Mama erzählen!“ – Tja, was macht ein kleines Mädchen dann als erstes? Es rennt zur Mama und erzählt …

Was in der Situation passiert ist?
Ich weiß es nicht – es ist in meinem Unterbewusstsein vergraben. Aber ich weiß, dass es zu einer Gerichtsverhandlung wegen sexuellem Missbrauch kam und die Beziehung zu den Nachbarn abgebrochen wurde. Das war „meine Geschichte“. Ich bin damit aufgewachsen und es schien mir nicht schlimm zu sein. Es war „normal“, keine große Sache und ich habe diese „Episode“ einfach vergessen.

Der Einfluss meiner sexuellen Lerngeschichte
Als Teenager hatte ich wenig „Hunger“ nach Sexualität. Zärtlichkeit und Nähe wollte ich schon. Mehr eigentlich nicht. Aber meine Freunde erklärten mir, das würde halt dazu gehören … Von meiner Mutter hörte ich: „Sex ist was für Männer, das musst du halt über dich ergehen lassen.“ – So hatte sie es selbst erlebt und so habe ich es von ihr übernommen. Ich habe mich benutzen lassen.

Mit 20 hatte ich mehrere tief verletzende Männergeschichten hinter mir. Meine Selbstachtung war völlig im Eimer und in einer tiefen Krise wagte ich ein Gebet:

Gott, ich glaube ja nicht, dass es dich gibt, aber falls es dich doch geben sollte, dann könnte ich jetzt deine Hilfe gebrauchen.

Das war der Anfang eines völlig neuen Lebens. Gott hat mir geholfen. Jesus ist mir begegnet und berührte mein Herz.

Drei Jahre später heiratete ich. Ich war überzeugt: Jetzt wird alles gut. Wurde es aber nicht. Wir beide kamen aus zerbrochenen Familien. Ohne positive Vorbilder, mit einem großen Rucksack an Verletzungen.

Nur mit dem Vorsatz, uns als Christen nicht scheiden zu lassen, „kämpften“ wir uns durchs Leben. Aber auch da durften wir Gottes Eingreifen erleben: 1988 fand das erste Eheseminar von team-f in Bayern statt (damals noch unter dem Namen „Neues Leben – neue Familien“) und wir konnten dabei sein. Dort gab es für uns die ersten „Aha!“ Erlebnisse und es war klar: „Davon brauchen wir noch viel mehr!“

Meine Heilungsschritte
Wir wurden Helfer, Mitarbeiter, erlebten innere Heilung. Ließen uns ausbilden. Und machten große Fortschritte in unserer Ehe – aber nicht in unserer Sexualität … Natürlich hatten wir uns im Laufe der Jahre auch mit diesem Thema auseinander gesetzt. Wir haben Bücher gelesen, haben ein Seminar besucht und versucht, miteinander zu sprechen, aber es war wirklich schrecklich: Es war unser größtes Problem. Ich hatte keine Lust auf Sex und Johann schien mir „ständig“ hungrig zu sein. Viele Jahre „machte ich mit“, „ließ es über mich ergehen“ und hielt mich an Paulus‘ Rat, mich nicht zu entziehen. Aber Freude an der Sexualität empfand ich nicht. Sehr oft war bei uns „dicke Luft“. Johann fühlte sich abgelehnt, wenn ich „Nein“ sagte, ich hatte das Gefühl, ich würde mich selbst vergewaltigen, wenn ich zustimmte. Aus diesem Teufelskreis schien es keinen Ausweg zu geben.

Manchmal kam mir zwar der Gedanke, dass es auch einen Zusammenhang mit meiner Vergangenheit geben könnte, aber das verdrängte ich schnell wieder. Ich kannte einige Frauen, die sich an dem Punkt an die Aufarbeitung alter Geschichten gewagt hatten und durch schwere Zeiten gegangen sind. Ich hatte Angst davor, hier näher hinzuschauen und verdrängte die Gedanken immer wieder. Ich war ja nicht vergewaltigt worden. Bei mir war es doch nicht so schlimm …

Erst Anfang 2000 konnte ich einen ersten Schritt aus diesem „Gefängnis“ heraus tun: In einer Seelsorgewoche erwähnte ich mein Erlebnis und entschied mich, dem Nachbarn zu vergeben. Wir beteten um Heilung, aber trotzdem gab es zwischen uns als Ehepaar keine Veränderung. Im Gegenteil, die Krise spitzte sich zu. Mein Denken über Sex hatte sich nicht geändert. In mir war immer noch die Einstellung, miteinander zu schlafen hieße „benutzt zu werden“ und das „Ertragen“ sei meine eheliche Pflicht …

Im Sommer 2000 wurde es richtig schlimm. Wegen einer Kündigung kam ich innerlich zusätzlich in eine Krise. Jetzt ging gar nichts mehr. Ich verweigerte mich völlig, mein Mann zog aus dem Schlafzimmer aus und wir beide waren völlig verzweifelt.

Wegen meiner Erschöpfung durfte ich in diesem Herbst auf eine Kur fahren. Hier kam ich zur Ruhe. In den Gesprächen mit der dortigen Psychologin kamen wir auch auf dieses Thema. Sie empfahl mir, mich in der Zeit dort selbst einmal mit meiner Sexualität auseinanderzusetzen, ganz unabhängig von meinem Mann. Das habe ich dann auch gemacht. Ohne therapeutische Begleitung, ohne weiteren Rückblick und in der entspannten Atmosphäre. Dort begann ich, über Sexualität nachzudenken und Bücher dazu zu lesen. Und überrascht musste ich fest stellen, dass auch ich Lust und Sehnsucht empfinden kann. Das machte mir Hoffnung.

Gleichzeitig hatte mein Mann sich in seiner Verzweiflung an Gott gewandt. Und dabei entschieden, mir keinen Druck mehr zu machen. Er wollte mir Zärtlichkeit schenken, aber die Forderung nach dem Eins Werden weglassen.

Nach der Kur begann für uns deshalb ein ganz neuer Weg. Ich kann nicht sagen, dass wir nicht noch manchmal zurückgefallen wären in die alten Muster, aber es wurde immer weniger. Wir lernten, miteinander zu sprechen. Wir baten Gott um Hilfe. Wir entdeckten, wo uns falsche Denkmuster, Erwartungen und Prägungen im Weg standen. Und vorsichtig entwickelten wir miteinander einen ganz neuen Umgang:

Es ging nicht mehr darum, über Sex etwas zu bekommen, was wir brauchten, sondern darum, einander wohlzutun, zu schenken, zu genießen …

Meine Freundinnen mussten einen schweren Weg gehen und ihre Vergangenheit intensiv bearbeiten. Ich musste das nicht, aber weiß inzwischen: Gott hat mir da ein echtes Wunder geschenkt. So wie er körperlich heilen kann, kann er das auch in der Seele. Ich verstehe nicht, wieso gerade ich hier so beschenkt worden bin. Das ist Gnade, genauso wie die spontane körperliche Heilung, die es gibt. Aber ich bin von Herzen dankbar für dieses großartige Geschenk!

Und was soll ich sagen: Heute genieße ich Sexualität.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das eines Tages möglich wäre, aber ehrlich: Gott kann auch da Heilung schenken. Gott hat unsere Sexualität geschaffen und sie uns als Geschenk gegeben. Manchmal ist es ein längerer Weg, das so zu erleben. Aber ich empfehle dir: Gib auch du nicht auf, es lohnt sich!

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