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Auf einmal ist ein neues Baby da!

– von Sonja Brocksieper

Die Geburt eines kleinen Geschwisterchens ist nicht nur für die Eltern, sondern auch für ein Kind ein bedeutsamer Einschnitt. Wie können Eltern diese besondere Zeit einfühlsam begleiten?

Als Finn seine kleine Schwester Emma zum ersten Mal im Arm hält, ist er richtig stolz. Zärtlich streichelt er ihr über das weiche Bäckchen. Aber nach einer Weile kommen zu diesen Glücksgefühlen ganz neue Erfahrungen dazu. Ständig wird das Baby von Mama und Papa gefüttert, getragen, gewickelt, umsorgt und sie vertrösten ihn immer öfter: »Warte, nicht jetzt. Ich muss mich erst noch um Emma kümmern.« Auch wenn Finn sich wirklich auf das neue Baby gefreut hat, kommen nun richtig doofe Gefühle dazu – Frust und Enttäuschung. Mama und Papa haben viel weniger Zeit. Der Alltag ist ganz anders geworden – nicht mehr so schön wie früher, als Mama abends immer Zeit hatte, mit ihm zu kuscheln. Für Finn fühlt sich alles gar nicht gut an. Wütend malt er dunkle Striche an die Wohnzimmerwand, als Mama gerade die kleine Emma badet.

Dieser Einschnitt wird gerne als Entthronung bezeichnet, weil die Geburt des Geschwisterchens von Erstgeborenen genau so empfunden wird. Bisher saß das Kind allein auf dem »Thron der Familie«. Jetzt ist da noch jemand, der die Aufmerksamkeit der Eltern braucht und einen Anspruch auf diesen Platz hat. Genau das kann sehr bedrohlich wirken. Nicht selten fühlen sich die Großen zurückgesetzt und übersehen. Und weil sie Kinder sind, sind sie natürlich noch nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse zu formulieren oder ihre innere Not angemessen zum Ausdruck zu bringen. Sie sind mit der neuen Situation und den dazugehörende Gefühlen schlicht überfordert und wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. So zeigen sie durch unbewusste Reaktionen, dass es ihnen nicht gut geht.

Nicht alle, aber viele Kinder erleben diese Zeit als eine schwere Krise.

In ihrem Geschwisterbuch schreiben die Erziehungsratgeberinnen Danielle Graf und Katja Seidel: »Die nachgeburtliche Krise ist die erste große emotionale Krise unseres Erstgeborenen – es hat Liebeskummer. Es ist so verletzt wie nie zuvor in seinem Leben. Unser Kind will uns nur mitteilen – auf seine ganz individuelle Art –, dass es Herzschmerz hat und dass es uns braucht. Unsere Aufmerksamkeit. Unsere Zuwendung. Unsere Liebe. Unseren Trost.«

Kinder zeigen ihren Schmerz ganz unterschiedlich:

Trotz und Aggressivität: Nachdem zu Beginn das neue Baby mit Küsschen und Streicheleinheiten in Empfang genommen wurde, kann sich das Blatt mit der Zeit wenden. Aus den liebevollen Zuwendungen werden kleinere oder größere Übergriffe. Das Baby wird gekniffen, gebissen oder gehauen, sodass man das Baby vor dem großen Bruder oder der großen Schwester immer wieder in Sicherheit bringen muss. Auch den Eltern gegenüber gehen die Großen in Opposition, indem sie weniger kooperativ sind. Es gibt Theater beim Zähneputzen, Schlafengehen oder Anziehen. Bereiche, die eigentlich schon funktionierten, werden zur Bühne für Machtkämpfe. Bei Finn war es so, dass er seinen Frust an den Wohnzimmerwänden ausgelassen hat. Das ist für die Eltern nicht schön und zeitweise auch sehr anstrengend. Aber es sind ganz normale Reaktionen, mit denen das Kind zum Ausdruck bringt, dass es die Veränderungen in der Familie verarbeitet.

Regression: Auch der Rückfall in frühkindliche Verhaltensweisen ist nichts Ungewöhnliches. Nicht selten nuckeln große Kinder in einer nachgeburtlichen Krise wieder am Daumen oder wollen aus dem Fläschchen trinken. Ich erinnere mich noch gut, dass einer meiner Jungs auf einmal wieder in die Hose machte, obwohl er doch eigentlich schon trocken war. Erst war mir der Zusammenhang gar nicht bewusst und ich reagierte genervt, wenn er schon wieder mit einer nassen Hose vom Spielen aus dem Garten kam. Aber schnell wurde mir zum Glück klar, dass das eine Reaktion auf das neue Baby war. Ohne viele Worte habe ich ihm dann immer geholfen, wenn das Malheur passiert war und nach einiger Zeit entspannte sich das wieder. Auch durfte sich unser Sohn wieder sein altes Fläschchen aus dem Schrank holen und hin und wieder gemütlich auf der Couch seinen Tee nuckeln – einfach weil es schön war, nochmal ein bisschen Baby sein zu dürfen.

Rückzug: Und dann sind da noch die Kinder, die nicht so offensichtlich zeigen, dass etwas nicht stimmt. Sie laufen einfach weiter mit, beschäftigen sich mit sich selbst und ecken nicht groß an – eine Situation, die für Eltern sehr angenehm ist. Allerdings könnte es sein, dass diese Kinder trotzdem einen Schmerz in sich tragen. Deswegen ist es ratsam, genau hinzuschauen, ob es vielleicht doch kleine Anzeichen gibt: Nägelkauen, Kratzen oder eine größere Anhänglichkeit könnten Zeichen für inneren Stress sein. Kurz nach der Geburt unseres zweiten Sohns machte unser großer Sohn als Vierjähriger bei einem Waldprojekt mit, worauf er sich sehr gefreut hatte. Aber dann beobachtete die Erzieherin, dass er in dieser Zeit immer passiver wurde. Er störte nicht, wirkte aber immer ruhiger. Wir merkten, dass diese Aktion nach den großen Veränderungen zu Hause einfach zu viel für ihn war und beschlossen, dass er erstmal ein paar Tage Kindergartenurlaub machen durfte.

Ist der Altersabstand zwischen den Kindern recht klein, wird diese Krise häufig als intensiver empfunden, weil jüngere Kinder weniger in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu äußern. Aber nicht nur Erstgeborene können von diesem besonderen Einschnitt herausgefordert werden, auch Zweitgeborene können eine nachgeburtliche Krise durchlaufen. Auch für sie verändert sich das Familiengefüge mit dem neuen Baby und das ganze Familiensystem muss sich neu sortieren – wie ein Mobile, das erstmal kräftig schaukelt, wenn eine neue Figur angebracht wird. Das Gleichgewicht ist nicht mehr da und es braucht eine Zeit, bis alles wieder ausgewogen ist und jeder seinen Platz gefunden hat. Dabei sind die ersten drei Monate die kritischste Phase und dann kann es je nach Kind und Umständen noch bis zu einem Jahr dauern, bis sich alles wieder entspannt hat.

Vorbereitung auf das neue Baby
Um diese Krise zu entschärfen, kann man schon vor der Geburt auf einige Kleinigkeiten achten, die es dem Kind leichter machen, mit den Veränderungen umgehen zu können. Auch wenn damit sicherlich nicht alle Gefühle von Neid und Eifersucht vermieden werden können, ist es hilfreich, wenn das große Kind nicht völlig unvorbereitet in diese neue Lebensphase geht. Gemeinsam kann man das neue Kinderzimmer einrichten und neue Spielsachen für das Baby kaufen. Wir haben sehr bewusst unseren großen Sohn bei den Vorsorgeuntersuchungen einbezogen. Wenn die Hebamme zu uns nach Hause kam, durfte er dabei sein. Äußerst spannend fand er es, als er mit dem Stethoskop die Herztöne seines kleinen Bruders hören durfte.

Sehr gut kann man Kinder auch durch Bücher auf die neue Lebensphase vorbereiten. Es gibt schöne Kinderbücher, die die Ankunft eines Babys thematisieren. So kommen Eltern und Kind ganz natürlich ins Gespräch, was besonders für ältere Kinder hilfreich ist.

Viel Verständnis nach der Geburt
Die Sozialwissenschaftlerin Nicola Schmidt erklärt: »Ob und wie sehr ein Erstgeborenes darunter leidet, plötzlich nicht mehr das einzige Kind zu sein, scheint […] davon abzuhängen, in welchem Alter das Geschwisterchen kommt, wie gut die Familie das erste Kind unterstützen kann und wie verfügbar die sekundären Bezugspersonen neben der Mutter sind.«

Eltern sind dieser Krise also nicht hilflos ausgeliefert, wenn sie diese aktiv gestalten und sich der Gefühlswelt ihres Kindes bewusst sind.

Dabei können sie folgendes beachten:

  • Anwesenheit des Papas während des Wochenbetts
  • nicht nur Geschenke für das Neugeborene, sondern auch für die Großen
  • große Kinder beim Baden und Wickeln helfen lassen
  • besondere Fähigkeiten der Großen hervorheben
  • einen sicheren Platz für die Spielsachen der Großen einrichten
  • besondere Vorrechte und nicht zu viel Verantwortung für die Großen
  • viel Körperkontakt und Kuschelzeiten

Gerade wenn sich das Kind daneben benimmt und unangenehme Verhaltensweisen zeigt, braucht es Zuwendung und Verständnis und keine Strafen. Ja, Kinder müssen grundlegend lernen, dass es nicht in Ordnung ist, Wände zu beschmieren oder die kleine Schwester zu kneifen. Aber in einer akuten Krise, in der ein Kind innere Not empfindet, hat das nicht die oberste Priorität.

Dann gilt es, tief durchzuatmen, das Baby aus der Gefahrenzone zu nehmen und möglichst zeitnah den emotionalen Tank des großen Kindes zu füllen. Bei all den Veränderungen in der Familie brauchen Kinder wie Finn die Sicherheit, dass ihre Stellung nicht gefährdet ist. Sie müssen sich der Liebe und Fürsorge der Eltern sicher sein, auch wenn diese nun mit einem anderen Menschen geteilt werden muss. Mit viel Sensibilität und einer großen Portion Empathie können Eltern dafür sorgen, dass kleine Geschwister nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung erlebt werden können.

Damit all das gelingen kann, möchte ich Eltern sehr ans Herz legen, gut auf sich selbst zu achten. Kinder zu begleiten kostet gerade in den ersten Jahren viel Kraft.

Eine gesunde Selbstfürsorge ist überlebenswichtig.

Zeit für sich allein, in der man nicht geben muss, sondern empfangen kann, ist eine wesentliche Grundlage für gelingende Elternschaft. »Aber die auf den Herrn hoffen, gewinnen neue Kraft; sie heben die Schwingen empor wie die Adler, sie laufen und ermatten nicht, sie gehen und ermüden nicht.« (Jesaja 40,31) Dieser Vers und das Bild des fliegenden Adlers hat mich in meinem Alltag mit den Kindern immer wieder ermutigt. Mit Gott an meiner Seite bekomme ich neue Kraft für meine Kinder – egal in welcher Lebensphase wir gerade stecken.

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