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Einzelkind oder Geschwisterkind?

Vorteile und Nachteile

– von Andrea Wettstein

Ein Einzelkind zu erziehen, konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen. Die gängigen Vorurteile gegenüber Einzelkindern und ihren Eltern, die sich bis heute, entgegen wissenschaftlichen Studien, hartnäckig in den Köpfen unserer Gesellschaft halten, kenne ich nur zu gut: Einzelkinder sind verwöhnt, erwachsenen-orientiert, überbehütet, intellektuell und einsam1. Doch es sollte anders kommen …

Meine Kindheit mit zwei Schwestern
Ich selbst wuchs in einer Familie mit zwei jüngeren Schwestern auf. Die Beziehung zu meiner mittleren Schwester war oft von Streit geprägt. Für die Jüngste war ich wie eine zweite Mutter. Doch heute pflege ich eine innige und vertraute Beziehung zu beiden Schwestern. Geschwister zu haben war für mich die Normalität und ich war und bin sehr dankbar über diese Erfahrung!

Unerfüllter Kinderwunsch
Als ich mit 22 Jahren die Ehe mit einem Mann einging, der mir vor der Hochzeit sagte, dass wir ein Leben lang kinderlos bleiben würden, konnte ich die Konsequenz nicht abschätzen. Unter anderem litt ich häufig unter der Kinderlosigkeit während unserer 17-jährigen Ehe. Nach dem Scheitern meiner Ehe war ich dankbar, dass Gott meinen Kinderwunsch nie erfüllt hatte. Aber ich war auch überzeugt: Der Zug für eine eigene Familie ist für mich abgefahren.

Eine neue Chance
Zwei Jahre später lernte ich meinen Mann Tobias kennen und als ich von seinem Kinderwunsch erfuhr, sagte ich ihm mit aller Deutlichkeit: Such dir eine junge Frau! Doch er war überzeugt, dass Gott uns mit einem Kind beschenken möchte und wenn nicht, würde er uns helfen, mit der Kinderlosigkeit klarzukommen. Wir heirateten und das Wunder geschah! Ich habe mit 43 Jahren einen gesunden Jungen entbunden.

Nicht nur die Umstellung mit Anfang vierzig Mutter zu werden, sondern auch ein Land- und Kulturwechsel (von Zürich nach Frankfurt) und der Aufbau einer zweiten Ehe, kosteten viel Kraft. Für uns beide war klar, dass Joshua ein Geschenk ist, dass es jedoch bei einem Kind bleiben würde.

Während der letzten Jahre kämpfte ich jedoch immer wieder mit Schuldgefühlen, weil unser sechs Jahre alter Sohn keine Geschwister hat.

Einzelkind – Vorurteile und Vorteile
Meine Befürchtung war, er könnte sich einsam fühlen, die Klischees von Einzelkindern erfüllen und verpassen, was ich in einer großen Familie erlebt habe: einen Zusammenhalt unter Geschwistern, immer jemanden zum Spielen haben, Wegbereiter für die Jüngeren zu sein etc.

Die intensive Beschäftigung mit neuen wissenschaftlichen Studien wie z. B. im Buch von Brigitte Blöchlinger »Lob des Einzelkindes« oder dem Buch des deutschen Familienforschers Hartmut Kasten »Einzelkinder und ihre Familien«2 halfen mir, mich mit unserer Situation als Kleinfamilie zu versöhnen, den alten Vorurteilen gegenüber Einzelkindern aufzuräumen und die vielen Vorteile zu genießen, die Kinder ohne Geschwister haben.

Noch bis in die 1980er Jahre herrschte die Meinung vor, dass Einzelkinder nicht »normal« aufwachsen, wenn sie keine Geschwister haben und ein einsames Dasein fristeten. Studien haben jedoch gezeigt, dass sich viele Einzelkinder im Allgemeinen nicht einsamer fühlen als Geschwisterkinder.3 Sich mit sich selbst beschäftigen zu können und in die Ruhe zurückzuziehen, lernen Einzelkinder gezwungenermaßen. In der Schule und im späteren Leben kommt es ihnen zugute.

Der Einfluss von Geschwistern auf die Persönlichkeitsbildung wurde in der Gesellschaft wie in der Wissenschaft überschätzt.4 Klar beeinflussen Geschwister einander, aber die Vorteile sind auch ambivalent. Die Rivalitäten und der Streit unter Geschwistern, das Verglichenwerden von den Eltern, ungerechte Rollen zugeteilt bekommen, kennt unser Sohn nicht. Das macht ihn andererseits aber auch weniger konfliktfähig in Gruppen. Da haben Geschwisterkinder einen Vorsprung, da sie täglich herausgefordert sind, mit ihren negativen Emotionen einen Lösungsweg zu finden.5

Dafür sind Zweierfreundschaften die Stärke von Einzelkindern, sagen neueste Studien und das kann ich bestätigen. Mit seinem Cousin in der Schweiz, der nur einen Monat älter ist als er, pflegt er eine enge Freundschaft. Einzelkinder sind laut Studien auch oft extrovertierter als Geschwisterkinder, da sie sich um Freundschaften bemühen müssen, wenn sie nicht allein sein wollen.6

Interessant ist, dass den stärksten Einfluss auf den Charakter eines Kindes nicht die Geschwister, sondern der Erziehungsstil und der Umgang der Eltern miteinander haben.7 Da sind wir als Eltern gefragt, ein aufrichtiges und versöhntes Miteinander vorzuleben.

Darauf sollten Eltern achten
»Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Weil keine Geschwister da sind, sind wir umso mehr gefragt, unseren Sohn immer wieder Zeiten mit anderen Familien, das Spielen mit Kindern aus der Nachbarschaft, KiGa-Freunden und Urlaube mit meiner Familie in der Schweiz (viele Cousins und Cousinen) zu ermöglichen, um einen Ausgleich zwischen Erwachsenen- und Kinderwelt zu schaffen. Hier lernt er in Gruppen und engen Freundschaften mit anderen Kindern emotionale Lernprozesse. Das bedeutet für mich zwar Organisationsaufwand und manchmal auch ein Opfer, wenn ich anstatt eines ruhigen Nachmittages mit meinem Sohn ein Treffen mit einer anderen Familie durchführe. Wenn ich dann aber abends in die strahlenden Kinderaugen blicke, macht mich das glücklich.

Der bedeutendste Vorteil, den ein Einzelkind genießt, ist meiner Meinung die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern. Wir können unseren Sohn in seinen Interessen und Stärken individuell fördern und auf seine Bedürfnisse eingehen. Ressourcen wie Aufmerksamkeit, Zeit und Finanzen müssen nicht auf mehrere Kinder aufgeteilt werden.

Mein Mann erlebt z. B. solche Exklusivzeiten mit unserem Sohn, wenn die beiden ihre Mountainbike-Trails fahren und abends einen Besuch beim Italiener machen. Mit mir erlebt er wieder eine andere Welt; die der Museen, der Kunst und Literatur. Daraus entsteht eine enge Beziehung, die positive wie negative Seiten hat. Sprachlich, intellektuell und was Reife und Selbstbewusstsein anbelangt, wertet die Autorin von »Lob des Einzelkindes« als positiv. Negativ würden sich die zu hohen elterlichen Erwartungen an das einzige Kind auswirken.8 Überzogene Erwartungen kennen wir auch und da müssen wir uns als Eltern immer wieder absprechen und auch gegenseitig korrigieren.

Egal, ob Einzelkind oder Geschwisterkind, was wir uns wünschen ist, dass Joshua weiß, dass er bedingungslos geliebt ist. Auch wenn er unser einziges Kind ist, hat er keinen »Sonderstatus«, sondern ist eines von drei Familienmitgliedern. Er darf sich und seine Bedürfnisse einbringen und lernen, verantwortungsbewusst mit sich und anderen umzugehen. Wir wollen ihn in seiner Selbständigkeit fördern und bewusst Kontrolle und ein überbehütendes Verhalten loslassen.

Jedes Kind ist ein Geschenk und ein einzigartiges Individuum, das nicht auf Stereotype reduziert werden darf.

Unser Sohn wird als Einzelkind keine schlechte Familienkonstellation erleben. Er genießt sogar viele Vorteile, die Geschwisterkinder nicht haben. Aber auch Geschwister zu haben, hat viele schöne Seiten.

  1. So beschreibt Blöchlinger in ihrem Buch: Lob des Einzelkindes die fünf gängigsten Vorurteile gegenüber Einzelkindern. Die alle aus Studien des 19.Jahrhunderts kommen. Blöchlinger, Brigitte. Lob des Einzelkindes. Das Ende aller Vorurteile. Frankfurt a. M., S. 23. ↩︎
  2. Kasten, Hartmut. Einzelkinder und ihre Familien. Göttingen, 2007. ↩︎
  3. Blöchlinger, S. 80. ↩︎
  4. ebd. S. 136/7. ↩︎
  5. Berk, 2005. In Blöchlinger, S. 146. ↩︎
  6. Blöchlinger, S. 137. ↩︎
  7. Poston & Falbo, 1993. S. 32. In Blöchlinger, S. 136. ↩︎
  8. Blöchlinger, S. 77. ↩︎

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