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Glaubensgeschwister

Ganz schön schwer

– von Ulrich Eggers

Als Sonntagschulkind war es noch klar für mich: In der Gemeinde sprach man einander mit »Bruder« und »Schwester« an. Na klar, wo wir als Christen doch den einen gemeinsamen Vater im Himmel haben …

Heute ist die schöne Anrede oft verloren gegangen – und das hat auch Vorteile, denn der Auftrag von Kirche und Gemeinde richtet sich nach draußen, familiäre Nestwärme als Signal kann da auch abstoßen und exklusive Distanz ausdrücken.

Aber dass die Gemeinde immer auch Familie unter Gottes Elternaugen ist, das bleibt ja: »Ich will nicht weniger Geschwister haben als mein Vater Kinder«, heißt der steile Spruch. Ein Vorhaben, das angesichts all unserer Unterschiedlichkeit aber echte Aktion verlangt. Denn so ein Satz klingt super – aber er sagt ja noch lange nicht, dass ich all diese anderen Kinder Gottes in meiner Kirchengemeinde oder unserem Ort deswegen auch gleich gern mögen oder liebhaben muss. Und tatsächlich: Christen sind Familie – mit vollen und gleichen Rechten, egal wie merkwürdig andere uns erscheinen.

Das ist eine Riesenchance! Aber es heißt nicht automatisch, dass es in dieser Familie keinen Streit, keine Konkurrenzgefühle, keine Leichen im Keller oder Konflikte, Vorurteile und Vorbehalte gibt. Geschwisterstreit ist normal – und am besten legen wir uns schon mal gute Strategien zurecht, wie wir damit umgehen. Denn anders als in einer leiblichen Familie, wo man ja von einer ähnlichen Prägung und Chemie ausgehen kann, kommen Glaubensgeschwister aus allen Himmelsrichtungen.

Eine Gemeindefamilie, das ist – wenn es gut geht – eine Mehrgenerationen-Patchwork-Großfamilie mit ständiger Fluktuation.

Und Riesen-Unterschieden: Einheimische und Zugereiste, Reingeborene und Angelernte, Frauen und Männer, Junge und Alte, Charismatiker und Dogmatiker, Fundis und Realos, Landes- und Freikirchler und noch viel Freiere von den Freien: Ein Patchwork aus von Herzen gewollten und angenommenen Gotteskindern, die ab und zu ein gemeinsames Wohnzimmer bevölkern und funktional verbunden sind. Kein Wunder, dass es da auch reibt und funkt und blüht und wächst. Oder auch mal nicht. Nur eins ist richtig klar: Ihr großer Vater liebt sie zu 100 Prozent gleich, hat sie gleich wertvoll gemacht und gleiche Rechte, Pflichten und Ziele gegeben.

Eine hoch ambitionierte Familie also – eine mit einem Auftrag. Mit Idealen. Und Grundsätzen. Und Traditionen und Prägungen – und das in unserer Zeit durch Berufs- und Ortswechsel zunehmend bunt durchgewürfelt. Wie kann das bloß gut gehen? Gut gehen kann das, wenn man den Reichtum dieser Konstruktion verstehen lernt und die Andersartigkeit des anderen als heilsame Herausforderung begreift, reifer, liebevoller, geduldiger und fruchtbarer zu leben. Ganz offensichtlich hat unser Vater es sich genau so vorgestellt – als Lernaufgabe nach innen und sichtbares Zeichen nach außen. Aber natürlich: Das ist ein Prozess – Stolpern gehört dazu.

Das große kluge Regel-Buch
Während in unseren leiblichen Familien Mama und Papa das Sagen haben, ist das in der Gemeindefamilie alles etwas komplexer. Gott, der Vater, redet uns selten direkt rein, aber er hat in weiser Voraussicht kluge Regeln gegeben, die schon seit rund zweitausend Jahren dafür sorgen, dass diese fromme Patchworkfamilie zumindest so gut zusammenhält, dass sie noch heute Kinder zeugen und Häuser bauen und Lichter hochhalten und Ziele erreichen kann.

Ein echtes Wunder. Das immer wieder gelingen kann, wenn sich die Glaubensgeschwister mit ehrlichem Eifer und kluger Weitsicht an die unglaublich praktischen biblischen Regeln für Gottes Geschwister halten – wir tun gut daran, die Früchte des Geistes, die gegenseitige Unterordnung, das liebevolle Miteinander, die goldene Regel und all die vielen guten Sätze immer wieder neu einzuüben – so wie schon die ersten Gemeinden das brauchten. Geschwister halt …

Viel Gutes für ein gelingendes Miteinander kann man sich auch aus Literatur aus dem Raum christlicher Gemeinschaften holen – Regeln des Zusammenlebens, Konflikt-Lösungs-Prozesse nach Matthäus 18, die Regel von Sannerz (nicht in Abwesenheit einer Person negativ über sie reden) – so vieles hat sich bewährt!

Ob uns das leicht fällt oder nicht, hat allerdings auch etwas mit unserem Selbstbild zu tun: Sind wir Christen diejenigen, die es geschafft haben und dank geistlichem Durchblick die Niederungen des Alltags unter den Füßen haben – dann wird aus uns rasch eine Heuchler-Gruppe frommer Pharisäer. Gemeint ist unsere Gemeindefamilie als warmes Nest für Sünder – die beste Gemeinde, so meint Gordon MacDonald provozierend, habe er bei den Anonymen Alkoholikern erlebt, denn da war wirklich klar, dass jeder Sünder war und ein Problem hatte – Geschwister, die einander nichts vormachen.

Arbeit, Feiern, Spiel
Apropos Nest – das ist eine echte Spannung vieler Gemeindefamilien – und oft Anlass für Streit: Ist Gemeinde wirklich vor allem warmes Nest für alle, die dazugehören? Und muss sich deswegen wie in jedem guten Club alles nach innen ausrichten auf das Wohlsein der Clubmitglieder? Oder ist Gemeinde eher so etwas wie eine warme Rettungs-Station auf den Klippen am Meer, wo die Mitglieder die Augen aufhalten nach Menschen, die Jesus sucht und verbinden und trösten und heilen will?

Je mehr wir gemeinsam nach außen aktiv werden, umso größer ist die Chance, dabei unterwegs herzliche Gemeinschaft, enge Zugehörigkeit und große Einheit zu erleben.

Denn so hat sich Jesus Christus unsere Geschwister-Einheit in Johannes 17 vorgestellt: Gemeinsam unterwegs sein, »damit die Welt erkennt« – Jesus erkennt.

Und dennoch: Das richtige Maß an Engagement nach außen und innen – die Spannung zwischen Nest und Rettungs-Station –, die müssen wir gut managen. Sie bleibt auch unter Geschwistern immer ein Thema. Denn einander zu kennen und von anderen erkannt zu werden, ist eines der großen Grundbedürfnisse von Menschen – und eine wichtige Aufgabe jeder Gemeindefamilie. Gemeinsame Arbeit ist ein starkes Hilfsmittel dafür. Aber sie kann nicht das einzige sein – auch Feiern und Spiel und Gemeinschaft ist Familiensache. Es gibt starke Mittel, Wärme und Nähe und Verstehen untereinander zu fördern. Wer durch den fremden Mantel anderer dringen will, der muss deren Geschichte hören, Prägungen und Erfahrungen kennen. Das braucht Zeit und Begegnungsfläche.

Freizeiten und Seminare sind auch deshalb ein wichtiges strategisches Hilfsmittel für die Ziele einer Gemeinde. Aber es gibt viele Wege, einander kennen zu lernen – und damit unsere Geschwister-Liebe zu fördern. Was in einer Familie ganz natürlich ist, muss heute in der Gemeinde sehr bewusst organisiert werden: Treffen zwischen den Generationen, Einführungsgruppen für Neueinsteiger oder bewährte Hilfen wie der »heiße Stuhl« im Hauskreis oder anderen Teams, wo jeder Fragen zu seiner Geschichte beantwortet: Viele kreative Methoden helfen, wenn man die oft große Scheu und Zurückhaltung vieler Menschen als strategisches Hindernis für Geschwisterliebe, konkretes Gebet oder mitfühlende Hilfe erkannt hat.

Einander gut reden
Das gilt übrigens auch für die Glaubensgeschwister einer Region oder einer Stadt: Wie gut kennen wir andere Gemeinden und ihre Leute? Haben wir dafür einen Plan?

Wir sind vor Ort nicht wie Aldi oder Lidl Konkurrenz, sondern eben Geschwister des einen Vaters. In Zukunft wird immer unwichtiger sein, welcher Markenname auf unseren Gebäuden steht, sondern ob wir gemeinsam Gottes Auftrag erfüllen.

Damit das gelingt, können wir viel tun: Begegnen wir einander? Lädt jemand ein? Es gibt viele Wege dafür: Gemeinsames Engagement bei Projekten (von Gebetswochen bis hin zum Stand beim Weihnachtsmarkt oder der Aktion »Weihnachten neu erleben«, von Bauspielplätzen über die Mitarbeit bei den Tafeln bis hin zu Hilfe und Gebet für Schulen und Lehrer). Ein gemeinsamer Hungermarsch oder ein Stadtkirchentag, bei dem sich alle Gemeinden vorstellen und ihre Angebote zeigen: Glaubensgeschwister einer Stadt sollten bekannt sein dafür, dass sie die ersten sind, die zusammenhalten. Wenn es dann unter Geschwistern auch mal kracht, macht das nichts – so ist es halt in Familien …

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