Wenn der Bruder das Lieblingskind ist
– von Hans-Ludwig Hase
Als ich am 21.06.1957 geboren wurde, war schon ein Bruder vor mir da. Er war ein Jahr alt. Und es sollten noch fünf weitere Geschwister folgen (zwei weitere Brüder und drei Schwestern). Ihr könnt euch vorstellen, bei uns war immer etwas los. Aber der Reihe nach!
Eine unspektakuläre Kindheit?
Ich war definitiv nicht das »Lieblingskind«. Meine Kindheit verlief zunächst unspektakulär. Zumindest war ich bis ins Erwachsenenalter davon überzeugt, dass sie unspektakulär war. Im zarten Alter von ca. drei Jahren »verließ« ich meine Ursprungsfamilie und lebte bis zum sechsten Lebensjahr bei meinem Onkel und seiner Frau. Die beiden konnten keine eigenen Kinder bekommen und so fand ich dort einen Platz.
Meine Mutter, auf diesen Umstand angesprochen, sagte mir immer wieder, dass ich es so gewollt hätte. Ich hätte mich dort sehr wohl gefühlt. Ich erlebte dort allerdings häufig häusliche Gewalt mit, da mein Onkel alkoholabhängig war und seine Frau ihn deshalb oft »züchtigte«. Sie war eine starke Frau.
Auf der Suche nach Anerkennung
Zurück in meiner Ursprungsfamilie musste ich erleben, dass mein älterer Bruder derjenige war, der »gesehen« wurde. Schnell war klar, dass er in die »höhere« Schule gehen und später studieren sollte. In dieser Phase meines Lebens (sechs bis zwölf Jahre) lief ich in der Familie so »nebenher«. Man beachtete mich nicht besonders, es sei denn, ich war krank. Diese Zeit fand ich selbst gar nicht so tragisch. Ich konnte viel mit meinen Klassenkameraden durchs Dorf ziehen. In der Pfalz würde man sagen: »Des is en richdiger Gassebu!« (Das ist ein richtiger Gassenjunge!)
Das änderte sich allerdings, als ich ins Teenageralter kam. Dass mein Bruder der »Sonnenschein« war, ging mir doch irgendwie richtig gegen den Strich.
Er war das »Lieblingskind«, ich stand im Schatten.
Da Leistung bei meinen Eltern hoch angesehen war, machte ich für mich eine unbewusste Festlegung. Ich wollte ab jetzt alles besser machen als mein Bruder, einfach auch, um mal den Status »Lieblingskind« einnehmen zu können. Ab diesem Zeitpunkt war Schule nicht mehr Nebensache. Fußball spielen konnte ich sowieso schon viel besser als er.
Ich entwickelte mich zu einem Perfektionisten, habe meinen Bruder in allen Schulklassen bis zum Abitur notenmäßig deutlich geschlagen (was meine Mutter heute mit 89 Jahren zu der Bemerkung hinreißen ließ: »Wir hätten den Hans auch studieren lassen sollen!«). Allerdings hatte ich das Gefühl, dass nicht meine Leistungen in der Schule, sondern mein fußballerisches Können dazu führten, dass ich mich eine Zeit lang als »Lieblingskind« fühlte.
Der Einfluss auf meine Ehe
Diese Sucht nach dem »gesehen werden«, diese Anstrengungen, den Platz »Lieblingskind« einzunehmen, hatten jedoch sehr unschöne Auswirkungen. Ich habe meinen Perfektionismus mit in meine Ehe übernommen. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, welche Folgen das hatte. Meine Frau konnte nichts richtig machen. Immer war ich der Meinung: »Da geht noch was!« Bei Streitigkeiten kam häufig dieses Gefühl »Sie sieht mich nicht!« so stark hoch, dass eine normale Kommunikation oft nicht möglich war. Das war für mich und meine Frau besonders schwierig.
Der Wendepunkt
Er kam für mich urplötzlich und mit voller Wucht auf dem Seminar »Versöhnt Leben – Beziehungen klären« von team-f. Gefragt nach meiner Ursprungsfamilie und meiner Geschichte, erzählte ich so beiläufig von meinem Aufenthalt bei meinem Onkel und dessen Frau, worauf der Mitarbeiter konterte: »Mein Lieber, das war knallharter Missbrauch!«
Damit musste ich erst einmal fertig werden. Es führte auch dazu, dass ich hartnäckig bei meiner Mutter nachfragte, ob ich wirklich so aus freien Stücken Teile meiner Kindheit bei meinem Onkel verbrachte. Irgendwann sagte sie mir, dass ich dort gewesen sei, um diese kinderlose Ehe zu retten!
Da wurde mir einfach noch einmal vieles sehr klar und ich konnte einen Weg der Aufarbeitung gehen und Vergebung bei meiner Frau erlangen. Diese Erkenntnisse habe ich bei unseren eigenen Kindern so umgesetzt, dass der Status eines »Lieblingskindes« nicht vergeben wurde. Das führe ich auch heute bei meinen zahlreichen Enkeln so weiter. Es gibt keinen »Lieblingsenkel«.
PS: Mein Bruder hat tatsächlich studiert. Ich folgte einer anderen Berufung, war 42 Jahre Polizeibeamter, immer im Außendienst nah bei den Menschen!