Wenn Pflegekinder in die Familie kommen
Amelie (Name von der Redaktion geändert) ist in einer Familie aufgewachsen, in der Pflegekinder aufgenommen wurden. Uns hat interessiert, wie sie das erlebt hat und welches Fazit sie daraus zieht. Das Interview führte Lena Knaack.
team-f: Wie war eure Familienkonstellation? Wie alt warst du, als die Kinder kamen und wie alt waren sie?
Amelie: Ich habe drei Geschwister und bin die Jüngste von uns vieren. Als ich zwölf Jahre alt war, kam das erste Pflegekind zu uns. Das Kind war zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt. Ca. zwei Jahre später kam ein weiteres hinzu. Es war auch ca. drei Jahre alt. Das dritte kam etwas später in unsere Familie. Als die Pflegekinder kamen, waren mein großer Bruder und ich noch zu Hause. Die beiden anderen größeren Geschwister waren bereits ausgezogen oder fast nie zu Hause.
team-f: Die Geschwisterreihenfolge wurde also nie verändert?
Amelie: Die Reihenfolge hat sich nicht verändert. Alle Kinder, die zu uns kamen, waren jünger als ich. Ich kann mich erinnern, dass eine Zeit lang auch ein Mädchen bei uns gewohnt hat. Sie war allerdings so alt wie ich und es hat gar nicht gut in der Familie funktioniert. Wir haben auch viel gestritten und meine Eltern haben sich schlussendlich dazu entschieden, das Mädchen wieder abzugeben.
team-f: Wie haben deine Eltern euch Geschwister darauf vorbereitet? Wurdet ihr gefragt?
Amelie: Ich kann nur beantworten, wie meine Eltern mich darauf vorbereitet haben. Meine Eltern haben mich damals gefragt, wie ich es finden würde, wenn noch weitere Kinder bei uns wohnen würden. Ich fand die Idee schön und konnte es mir erstmal vorstellen, mit kleineren, »neuen« Geschwistern gemeinsam zu Hause zu wohnen. Sie haben mir erklärt, dass es den Kindern in ihrem derzeitigen Zuhause nicht gut geht und sie daher ein neues brauchen.
team-f: Wie war für dich die Ankunft der Kinder und wie hat sich euer Alltag verändert?
Amelie: Der Alltag wurde natürlich ziemlich auf den Kopf gestellt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie das erste Pflegekind zu uns kam. Ich durfte den kleinen Jungen mit abholen und war total aufgeregt. Er war wirklich süß und ich mochte ihn sofort. Im Alltag drehte sich natürlich jetzt viel um den neuen Familienzuwachs. Beim ersten war es irgendwie noch aufregender als bei den anderen beiden.
Es war jedoch nach einer längeren Zeit für mich belastend, dass sich viel um die »neuen« Kinder drehte.
Diese Kinder benötigten – aufgrund ihrer Erlebnisse in den ersten Jahren – viel Zuwendung und auch viel Zeit für die individuelle Förderung (wie z. B. Ergo- oder Reittherapie) oder Termine mit dem Jugendamt – diese Zuwendung hat mir an manchen Stellen von meinen Eltern gefehlt.
team-f: Wie hast du dich gefühlt?
Amelie: Ich konnte mich gut auf die neuen Geschwister einstellen. Ich mochte (und mag sie immer noch) sehr. Jedoch habe ich mich in meiner Teenagerzeit oft von meinen Eltern nicht beachtet gefühlt. Häufig war ich auch genervt von den Besuchen des Jugendamtes. Mir ist es wichtig, zu sagen, dass ich nicht genervt von den Kindern war, sondern eher von den Dingen, die dazugehörten. Besuche des Jugendamts bei uns zu Hause. Immer jemand anders. Und der Druck in mir, zu funktionieren, freundlich zu sein und Ordnung zu schaffen bevor der Besuch kam.
team-f: Wie war und ist deine Beziehung zu den Pflegekindern?
Amelie: Die Beziehung zu den Kindern ist und war immer gut. Ich mochte alle drei sehr und habe auch heute noch zu allen Kontakt. Ich weiß, dass mich die drei auch sehr mögen. Oft sind sie zu mir gekommen, wenn sie etwas bedrückt hat – auch als wir alle älter waren. Wenn wir uns heute treffen, reden wir oft darüber, was wir »früher« so gemacht haben und ich scheine im Leben dieser Kinder ein wichtiger Bestandteil zu sein. Das freut mich natürlich total und ich hab sie auch einfach total lieb!
team-f: Welche schönen Momente sind dir in Erinnerung geblieben?
Amelie: Die Gemeinschaft mit den Kindern. Mit ihnen Zeit zu verbringen, ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen, mit ihnen Playmobil zu spielen oder in den Wald zu gehen. Außerdem finde ich es schön, dass sie zu mir gekommen sind, wenn sie etwas beschäftigt hat. Wir hatten sehr viel Spaß zusammen.
team-f: Was sind negative Erinnerungen?
Amelie: Tatsächlich hat es mich belastet, was die Kinder zum Teil in ihrer Ursprungsfamilie erlebt haben und was das für Folgen für sie hatte. Bestimmte Verhaltensweisen haben mich geschockt und sind mir auch heute noch in Erinnerung. Mir tat es furchtbar leid, zu sehen, wie sie unter dem, was passiert war, litten und dies auch teilweise immer noch tun. Außerdem drehte sich einfach sehr viel im Alltag um diese Thematik – Besuchskontakte, Termine, »Probleme«, die man mit den Kindern hatte.
team-f: Würdest du selbst Pflegekinder aufnehmen?
Amelie: Hier muss ich ein ganz klares Nein loswerden. Ich würde nie Pflegekinder aufnehmen. Nicht, weil ich keine Kinder aufnehmen möchte. Ich würde gerne anderen Kindern helfen und ihnen ein zu Hause geben. Ich habe aber auch immer die andere Seite gesehen – man nimmt Kinder auf, die ein ziemliches Päckchen zu tragen haben und das ist alles andere als einfach. Weder für die Pflegeeltern noch für die Kinder.
Außerdem wäre mir der ganze organisatorische »Kram« mit dem Jugendamt einfach zu viel. Zuletzt würde ich es einfach meinen eigenen Kindern nicht zumuten, so etwas mitzutragen, denn man trägt automatisch etwas mit, weil man Teil von diesem neuen Alltag ist.
team-f: Welche Kompetenzen oder Werte konntest du durch das Zusammenleben mit deinen Pflegegeschwistern mit ins Leben nehmen?
Amelie: Wenn mir Menschen schwierige Dinge aus ihrem Leben erzählen, bin ich aufmerksamer und verurteile sie nicht direkt. Ich packe Menschen nicht sofort in eine Schublade. Mir liegen Menschen sehr am Herzen und mir ist es wichtig, sie zu unterstützen.
team-f: Welche Tipps würdest du Pflegeltern geben, damit es gut gelingen kann?
Amelie: Ich finde es wichtig, bewusste Zeiten mit den leiblichen Kindern einzuplanen, da die Pflegekinder einfach sehr viel Aufmerksamkeit benötigen. Damit die eigenen Kinder nicht untergehen, sollten Eltern versuchen, auch ihnen gesonderte Beachtung zu schenken und auch regelmäßig nachzufragen, wie es ihnen mit der besonderen Familiensituation geht. Es gibt ja auch viel belastendes, was Kinder im Alltag mitbekommen.
Generell würde ich sagen, dass man Pflegekindern (und auch allen anderen Kindern) mit Liebe begegnen sollte. Und dazu zählt für mich unter anderem auch, die Kinder ernst zu nehmen – ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen zuzuhören und für sie da zu sein.
Wenn man diesen Kindern das Gefühl gibt, ernst genommen zu werden, hat man schon einiges erreicht.
Diese Kinder benötigen jemanden der sie für »voll« nimmt, da ist und ggf. behutsam auf sie eingeht. Und vor allem auch dann für sie da ist, wenn im Leben auch mal etwas schief läuft. Keine Verurteilung sondern bedingungslose Liebe. Egal was passiert.
team-f: Vielen Dank, liebe Amelie, dass du uns so einen ehrlichen Einblick gegeben hast. Ich denke, dass Pflegeeltern einen sehr wertvollen Job machen und es dabei aber sehr wichtig ist, die Bedürfnisse der leiblichen Kinder nicht aus den Augen zu verlieren.