Kinder anleiten und fürs Leben vorbereiten
– von Christian Siegling
Geschwisterstreit kostet Eltern viele Nerven. Aber das ist nicht umsonst! Wenn wir Kinder dabei sinnvoll begleiten, bereiten wir sie für die Herausforderungen des Lebens vor.
»Das ist gemein!« und »Lass los, du blöde Kuh!« – Timo und Lisa zerren beide an einem stattlichen Lego-Flieger. »Das ist meins!« und dann ein schriller Schrei: »Mammaaaa!« »Er hat mich gehauen!« »Gar nicht wahr!« Timo wirft den Flieger in die Ecke, sodass er in alle Einzelteile zerspringt. »Sie hat angefangen. Erst hat sie Schweinefurz gesagt und dann wollte sie mir den Flieger wegnehmen.« Lisa schreit: »Stimmt gar nicht, du Schweinefurz. Ich darf genauso Lego spielen wie du!«
Wer hat angefangen? Es ist müßig. Auch wenn jetzt klar ist, wer als erstes Schweinefurz gesagt hat. Was dem vorausging, wissen wir immer noch nicht. Den eigentlichen Grund kann man manchmal nur erraten. Das Ende des Dramas: Eine völlig nutzlose Predigt über Gewaltverzicht unter Geschwistern – bestenfalls. Wahrscheinlicher ist, dass man ausflippt, Vergünstigungen streicht, den Falschen erwischt oder resigniert den Ort des Geschehens verlässt.
Geschwisterstreit gehört zum Familienleben
Rivalität unter Geschwistern ist ein Phänomen, welches in den meisten Familien vorkommt. Bei manchen mehr, bei anderen weniger. Das liegt zum Teil an der Konstellation der Familie und an den Persönlichkeitstypen, aber auch daran, ob es uns gelingt, einen Konflikt bewältigen zu helfen oder womöglich sogar anzufachen. Eltern können ihn anheizen oder helfen, ihn zu bewältigen – das ist die Herausforderung!
Drei Ebenen des Geschwisterstreits
Geschwisterstreit hat meist mehrere Ebenen. Manche Auseinandersetzungen bleiben vollständig auf der obersten Ebene. Es gibt aber auch Streitereien, die zwar einen oberflächlichen Anlass haben, aber in der Tiefe auf einer anderen Ebene geführt werden.
Ebene 1: Der unmittelbare Anlass des Streits
Der Anlass kann scheinbar ganz banal sein. Kinder streiten um Gegenstände wie Stifte, Spielsachen, Kekse usw., weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, weil sie sich ärgern, müde oder überlastet sind, manchmal nur, weil der andere so blöd schaut. Für uns Eltern sind diese Anlässe häufig völlig undurchsichtig. Dann kann es hilfreich sein, ein Protokoll zu schreiben, um zu erkennen, wo sich bestimmte Auslöser auffällig häufen, z. B. Müdigkeit, Hunger, schlechtes Wetter oder Autofahrten.
Wenn man darüber Klarheit gewonnen hat, fallen einem eher einige wirkungsvolle Katalysatoren ein, die helfen können, aufgeladene Situationen zu entspannen. In der kritischen Zeit vor dem Abendessen könnte man zum Beispiel einen Rohkostteller zurechtmachen, bei schlechtem Wetter Freunde einladen oder für Autofahrten Beschäftigungsmaterial mitnehmen. Vielleicht stellt man aber auch fest, dass der Streit gar nicht so häufig ist, wie man es empfunden hat. Streiten sie wirklich immer? Oder gibt es nicht auch Momente, in denen sie vertieft über dem Bau eines Legofußballstadions sitzen oder draußen ein Lager bauen und es gemeinsam verteidigen? Worauf richte ich meinen Fokus?
Ebene 2: Der Kampf um den Status
Vielen Auseinandersetzungen, die unsere Kinder miteinander haben, liegt ihre Rivalität oder die Frage nach ihrem Platz in der Familie zugrunde. Dabei spielt es auch eine Rolle, an welcher Stelle in der Geschwisterfolge ein Kind steht oder aus welchem Blickwinkel Eltern ihre Kinder betrachten.
Geschwister rivalisieren um den Siegerpokal der elterlichen Liebe, den sie allerdings nicht in überquellender Fülle sehen, sondern als ein Gefäß endlichen Inhalts: Je größer der Schluck ist, den eins meiner Geschwister daraus nimmt, desto weniger bleibt für mich übrig.
Ebene 3: Tiefere Ursachen innerhalb unseres Familienlebens
Dass unsere Kinder unterschiedliche Positionen oder auch Rollen in der Familie einnehmen, ist normal und grundsätzlich auch gesund und hilfreich. Auch in unserem Erwachsenenleben müssen wir mit verschiedenen Rollen und ihren Aufgaben zurechtkommen. Schwierig wird es dann, wenn aus einer an sich gesunden Position in der Geschwisterreihe mit ihren Rechten und Pflichten eine Rolle wird, auf die ein Kind festgelegt wird und aus der es nicht mehr herauskommt. Das kann das Familienbaby sein, der Kleine, der immer klein bleibt, weil seine Eltern sonst ihre eigene Rolle als Eltern verändern müssten.
Es gibt auch den Sündenbock (Schläger), der irgendwie immer auffällt und der in der Familie an allem schuld ist. Der Angsthase oder das arme Kind, dem immer irgendein Missgeschick widerfährt. Wer ein armes Kind ständig beschützt, verstärkt den Groll der anderen und schreibt eine Rolle erst noch fest.
Familien sind manchmal wie ein Mobile und die Ursachen, warum ein Problem in unserer Familie besonders auffallend wird, können sehr vielschichtig sein.
Kommt die Balance einer Familie aus dem Gleichgewicht, kann der Geschwisterstreit ein Versuch sein, Ausgewogenheit wiederherzustellen.
Eingreifen oder nicht?
Einen Streit oder Konflikt zu verbieten, ist wenig sinnvoll. Rivalität unter Geschwistern ist normal und es ist nützlich für unsere Kinder, einzuüben, wie sie auch später mit Auseinandersetzungen umgehen können. Dennoch ist es angeraten, nicht bei jedem spitzen Ton dazwischen zu gehen und den Kindern die Lösung ihres Streites vorweg zu nehmen. Vieles können sie schon alleine lösen. Lassen wir die Kinder jedoch vollständig allein und bleiben desinteressiert, fühlen sie sich häufig überfordert oder im Stich gelassen.
Kinder sollten die Freiheit haben, ihre eigenen Differenzen beizulegen, haben aber auch ein Recht darauf, dass Erwachsene, falls notwendig, eingreifen, wenn
- ein Kind von einem anderen misshandelt wird, körperlich oder mit Worten,
- es ein Problem ist, das den ganzen Haushalt durcheinander bringt. (z. B. Kinder streiten am Tisch und keiner kann die Mahlzeiten genießen),
- es ein Problem ist, das immer wieder auftaucht.
Wenn wir nun einschreiten müssen, weil ein Streit zwischen den Kindern eskaliert, hilft ein Stufenplan:
- Nimm das Problem ernst und fasse es in Worte, aber hüte dich vor einem Urteil. Beschreibe so gut wie möglich auch die Gefühle, die die Kontrahenten wohl haben.
- Eröffne eine neue Perspektive oder schlage eine Lösung vor (nicht anordnen).
- Vermittle das Gefühl, dass du darauf vertraust, dass die Widersacher selbst eine Lösung finden.
- Entferne dich vom »Tatort« – es könnte sein, dass sich die Wogen glätten, wenn der eigentliche Zankapfel, nämlich die elterliche Aufmerksamkeit, weg ist.
- Schaukelt sich der Konflikt weiter auf: Sofortmaßnahmen, z. B. Trennen der Streithähne, Gegenstand wegnehmen, gemeinsames Spiel anfangen, …
No-Gos bei Geschwisterstreit:
- Vermeide ein Verhör: Auf die Frage »Wer hat angefangen?« gibt es selten eine befriedigende Antwort bzw. ein Lösung, mit der alle Beteiligten zufrieden sind.
- Petzen: Kinder die petzen, können ihr Problem meist auch alleine lösen und wollen nur jemanden, der sich auf ihre Seite schlägt. Besser ist, den Sachverhalt zusammenzufassen und z. B. fragen: »Was willst du jetzt tun?«
Sehr hilfreich ist es, im Familienrat Streitregeln festzulegen. Das hat den Vorteil, dass dort die Atmosphäre neutral und nicht schon aufgeheizt ist.
Lernen fürs Leben
Zum Abschluss möchte ich aber noch einmal positive Aspekte des Geschwisterstreits erwähnen, denn hier lernen unsere Kinder – ob wir es glauben oder nicht – eine ganze Menge fürs Leben! Sie lernen,
- wie Beziehungen »auf Augenhöhe« funktionieren,
- einen Kompromiss zu entwickeln,
- miteinander zu sprechen, anstatt zu schlagen,
- mit starken Gefühlen wie Liebe und Eifersucht umzugehen,
- ihre eigene Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit anderen zu entdecken.
Ich möchte allen Eltern Mut machen: Uns heute in den Geschwisterkonflikten mit unseren Kindern durchzukämpfen bedeutet, sie auf das Leben vorzubereiten!
Es ist nicht einfach nur nervig, belastend und kräftezehrend, sondern harte Arbeit, die sich lohnt, sinnvoll und gut ist. Denn die Beziehung zu unseren Geschwistern ist eine ganz besondere, da sie wahrscheinlich die dauerhafteste in unserem Leben ist.