Sehnsucht nach echten Beziehungen
– von Dirk Lüling
Wie offen kannst du in deiner Gemeinde über deine Schwächen reden? Wie perfekt musst du sein, um dem Anspruch deiner Gemeinde oder Gemeinschaft zu genügen? Hast du vertraute Freunde, die dich mit deinen Macken und Schwächen annehmen und dich durch Krisen tragen? Wie wäre es für dich, solche Leute an deiner Seite zu haben? Gerne möchte ich mit dir diese Thematik anschauen und beginne mit der Geschichte einer guten Freundin.
Wir waren die Vorzeigefamilie in der Gemeinde. Jeden Sonntag saßen wir Mädchen in adretten Kleidern oder Röcken, die langen Haare zu einem Knoten gedreht oder zu Zöpfen geflochten, brav auf unseren Plätzen im Gottesdienst. Stets waren wir auf eine gute Außenwirkung bedacht, überangepasst und eingeschüchtert durch unseren unberechenbaren, zornigen Vater.
Äußerlich entsprachen wir dem frommen Familienklischee unserer Gemeinde und erfüllten deren Erwartungen an eine christliche Familie. Unseren Eltern war es sehr wichtig, den frommen Schein zu wahren, das war für sie ein gutes christliches Leben. Das Motto unserer Familie war: »Gebt bloß keinen Anstoß in der Öffentlichkeit. Wie es bei uns drinnen aussieht, geht niemand etwas an.« Zu Hause wurde über die anderen Familien und deren Schwächen und Eigenarten gelästert. Das gab meinen Eltern ein Gefühl der Überlegenheit. Damit werteten sie sich auf – aber was war unsere Lebensrealität?
Meine fromme Großmutter väterlicherseits lebte mit uns im Haus. Sie beherrschte die Familie und hasste meine Mutter. Mein Vater war ihr hörig, er hatte beruflichen Stress und stritt ständig mit unserer Mutter. Nur seine Meinung war die Richtige und für uns Kinder Gesetz. Wir Mädchen machten in seinen Augen alles falsch. »Dumme Dinger« nannte er uns, angestiftet von seiner Mutter. Mit Schimpfen und Schlägen schüchterte er uns ein. Es war emotionaler und körperlicher Missbrauch. Aber darüber reden durften und konnten wir damals nicht, denn wir waren ja gläubig und mussten vergeben und uns unterordnen.
Wir Kinder litten sehr und reagierten unterschiedlich darauf. Eine Schwester rebellierte, eine andere schaltete auf stur. Dann gab es noch die gewissenhafte Pflichterfüllerin und ein hochsensibles Kind, das es sich zum Auftrag gemacht hatte, den Vater zu befrieden und die Familie zu retten. Diese Lebensmuster bestimmen bis heute unser Leben.
Leben in zwei Realitäten
In der Beratung begegnen uns heute ständig Menschen, die aus einem Familiensystem kommen, in dem anscheinend alles in Ordnung war. Aber hinter der netten Fassade gab es oft viel Kontrolle, Beschämung und Angst. Oder auch emotionale Distanz und Beziehungslosigkeit.
Viele Christen sind geprägt durch das Leben in zwei Realitäten: Nach außen muss alles gut erscheinen, man vermeidet jegliche Fehler, man muss perfekt dastehen, die Leute sollen nur das Beste von einem denken. Häufig stoßen wir in der Beratung auf ein Familienmotto, das alle Mitglieder bindet und zum Schweigen verpflichtet.
Doch neben diesem »perfekten« Leben hat sich oft ein geheimes Leben entwickelt mit Versagen und falschem Trost, von dem niemand etwas erfahren darf.
Schon gar nicht die anderen Leute meiner Gemeinde, die mit solch unschönen Dingen ja anscheinend nichts zu tun haben.
Wie war es bei dir zu Hause? Oder in deiner Gemeinde? Waren deine Eltern ein gutes Vorbild? Waren sie echt, haben sie zu ihren Fehlern und Schwächen gestanden und um Vergebung gebeten, wenn sie überzogen hatten? Oder gab es diese doppelte Moral mit der netten Außenansicht und dem internen Chaos?
Neben einem Familienmotto gibt es noch andere Gründe, warum Menschen ihr Gesicht wahren wollen. Wer Beschämung erlebt hat und sich minderwertig fühlt, neigt dazu, dies durch besondere Leistungen, mit Kontrolle, Perfektionismus oder Karriere zu überdecken. Diese Menschen entwickeln eine starke Außenseite, denn ihr innerer Antreiber sagt ständig: Sei perfekt, sei gefällig, gib keine Fehler zu.
Der Scham-Angst-Zyklus
Um dieses Dilemma deutlich zu machen benutzen wir in unserer Beratung eine einfache Grafik, den Scham-Angst-Zyklus:
Diese Grafik zeigt den Stress, den Menschen haben, die immer gut dastehen müssen, sich dem aber tief innerlich nicht gewachsen fühlen. Immer glänzen zu müssen, ist sehr anstrengend und ermüdend. So erleben sie regelmäßig emotionale und auch körperliche Einbrüche. Um sich dann etwas Gutes zu tun, entwickeln viele ein falsches Trostverhalten, das auf Dauer zu einer geheimen Sucht führen kann (Essen, Alkohol, Tabletten, Pornografie, Sexsucht, Kaufsucht etc.).
Diese geheimen Süchte und Abhängigkeiten können nur überwunden werden, wenn wir sie ans Licht bringen. Wir brauchen eine Person, mit der wir darüber reden und Annahme erleben. Und dann können wir auch über unsere kindlichen Versagergefühle und die Angst vor erneuter Beschämung sprechen.
Denn unsere kindliche Seele hungert immer noch nach Trost und dass ihr endlich Gerechtigkeit widerfährt.
Sie hungert nach aufrichtigem Interesse und wahrer Liebe. Diesen Hunger kann man nicht durch Leistung und Erfolg stillen, sondern nur durch Offenheit und echte Anteilnahme. Und dann kann man sogar erleben, dass Jesus unserer beschämten und ängstlichen Kinderseele begegnet und unsere Würde wieder
herstellt. An dieser Stelle empfehle ich unser Buch »Trost finden – Scham und Minderwertigkeit überwinden«.
Ja, in den evangelikalen Gemeinden unserer Kindheit und Jugend war das Familienleben scheinbar ganz in Ordnung. Probleme durfte es nicht geben, weil niemand damit umgehen konnte. So wahrte man in der Öffentlichkeit den Schein des guten Christenmenschen und regte sich zu Hause über die Scheinheiligkeit der anderen auf.
Offen und authentisch
Als wir vor 35 Jahren unseren Familiendienst begannen, war es für uns erschreckend zu entdecken, wie dysfunktional viele fromme Familien waren.
In diesen fromm-perfekten Gemeinden hielten wir unsere ersten Vorträge und Seminare. Mittlerweile hatten wir selbst Hilfe und innere Heilung erlebt und erzählten sehr offen von unserem Versagen, unseren Konflikten und von dem, wie wir bei Jesus und durch gute Beratung Hilfe erlebt hatten. In der Folge kamen viele frustrierte Christen zu unseren Seminaren. Sie hatten uns als authentisch erlebt und Vertrauen gefasst. Das machte ihnen Mut, auch über ihre eigenen Probleme zu reden.
Sie schätzten die offene und warme Atmosphäre bei team-f, und viele erlebten tiefe Veränderung und Heilung für ihr Herz und ihre Ehe.
Ein Mitarbeiterpaar erzählte uns später, dass sie sich nach unserem Gemeindevortrag einig waren: »Wenn Dirk und Christa es geschafft haben, dann schaffen wir das auch.« Darum ist es uns immer wichtig gewesen, nicht nur Fachwissen und geistliche Wahrheiten zu vermitteln, sondern authentisch zu sein. Damit haben wir die Herzen der Zuhörer erreicht.
Hast du Sehnsucht nach echten Beziehungen? Nähe und Vertrauen entstehen nur da, wo Menschen offen und echt mit einander umgehen. Wenn sie über ihre Schwächen, ihre Scham und ihre Ängste reden können, ohne verurteilt zu werden. Hast du schon solch einen Ort für dich gefunden?