Können wir alles wieder in Ordnung bringen?
– von Petra Miß
»Familie ist der Ort, an dem man lernt, im geschützten Rahmen verletzt zu werden.« Diesen Satz seufzte ein guter Freund mal leicht resigniert, als ihm seine damals noch kleinen Kinder vorhielten, dass er »voll ungerecht« ist. Irgend wie enthält das ja ein bisschen Wahrheit, oder?
Den eigenen Eltern vergeben
Ich habe wirklich großartige Eltern, die mir bis heute in vielem ein Vorbild sind. Dennoch erinnere ich mich an Situationen, die ich ganz fürchterlich fand und die ich als Erwachsene bewusst loslassen und vergeben musste (bzw. durfte), damit ich innerlich Frieden finden konnte. Das ist Teil des Prozesses, erwachsen zu werden und unerlässlich dafür, seinen Eltern auf Augenhöhe begegnen zu können und nicht immer in der Kind-Rolle zu bleiben. Es wäre wenig hilfreich für mich und meine wertvollsten Beziehungen, wenn ich immer weiter daran festhalte, wo ich Mangel erlebt habe.
Unsere Kinder halten uns einen Spiegel vor
Vermutlich fällt es vielen von uns leicht, die Fehler zu benennen, die unsere Eltern gemacht haben. Im Alter von ungefähr 15 Jahren habe ich im Zorn mal zu meiner Mama gesagt: »Meine Kinder werden mal die Mutter bekommen, die ich mir immer gewünscht habe!« Ich er innere mich, dass sie laut los gelacht hat, obwohl dieser Satz ja auch wirklich verletzend ist.
Inzwischen sind unsere Kinder erwachsen und spiegeln mir mitunter sehr deutlich, dass ich nicht immer so der Volltreffer als Mutter war, für den ich mich mit 15 Jahren noch gehalten hatte. Vor ein paar Monaten haben sie mich mit dem Satz konfrontiert: »Irgendwie warst du die meiste Zeit ziemlich genervt.« Wow, diese Aussage ist schwer verdaulich. Unsere Kids waren alle Wunschkinder und obwohl ich phasenweise hemmungslos überfordert war und wirklich Fehler gemacht habe, bin ich so gerne Mama. Die Zeit, in der ich überwiegend Zuhause war und weniger berufstätig, habe ich genossen und feiere es bis heute, dass ich so nah dran sein durfte, als unsere Kinder sich zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickelt haben. Wieso habe ich das offenbar nicht ausgestrahlt, sondern genervt gewirkt?
Manchmal reicht eine Entschuldigung nicht aus
Wenn mir bewusst war, dass ich Mist gebaut hatte, ungerecht war oder gereizt, habe ich mich bei den Kindern entschuldigt und mich bemüht, es besser zu machen. In einem Buch hatte ich gelesen, dass es für eine gesunde mentale Entwicklung ausreicht, wenn ein Kind sich im Grunde geliebt weiß und wir als Eltern offen mit unseren Fehlern umgehen.
Heute weiß ich: Das reicht nicht aus. Jedenfalls nicht immer. Eins meiner Kinder ist psychisch schwer erkrankt und die Anzeichen dafür habe ich nicht richtig bzw. rechtzeitig ein geordnet. Mir sind Dinge entgangen. Ich hatte das vage Gefühl, dass etwas nicht stimmt, es gab Veränderungen im Verhalten, Hinweise von anderen, aber ich habe allzu gerne den Beteuerungen geglaubt, dass alles in Ordnung sei. Vielleicht weil ich es glauben wollte. Weil ich den Gedanken, dass verschiedene Substanzen im Spiel sein könnten und Mobbing und toxische Beziehungen für eine zerstörerische Abwärtsspirale sorgten, nicht aushalten konnte. Weil ich gehofft hatte, dass die zum Teil haarsträubenden Ratschläge von anderen Personen nicht so eine Wirkung entfalten würden. Weil ich selbst so mit mir und meiner damaligen Essstörung, einem jüngeren Geschwisterkind, einer handfesten Ehekrise und dem Ehrenamt in der Gemeinde beschäftigt war, dass einfach keine Energie mehr übrig war für weitere Baustellen. Weil, weil, weil … Es gibt Gründe, Erklärungen. Aber die Erkenntnis, dass ich nicht die Mutter war, die meine Kinder zu der Zeit gebraucht hätten, bleibt trotzdem.
Meinen Schmerz über diese Wahrheit kann ich bis heute schwer in Worte fassen.
Wie also jetzt damit umgehen?
Gut ist, dass mehr junge Leute heute offen dafür sind, sich kompetente und professionelle Hilfe zu suchen und das in dem Fall betroffene Kind das auch getan hat. Auch das war für mich zunächst herausfordernd. Ich musste akzeptieren, dass mein Kind diese Hilfe braucht, weil es ein deutliches Defizit hat, das ich nicht ausgleichen kann.
Für mich ist es auch wertvoll, dass der Gesprächsfaden zwischen uns nicht abgerissen ist, dass die Beziehung sicher gelegentlich belastet war, aber immer bestand. Ich freue mich auch darüber, dass die Kinder mit ihrer Not ebenfalls zu Jesus gehen und Kraft aus ihrem Glauben schöpfen.
Inzwischen hat sich ganz viel zum Guten gewendet, Heilung ist passiert und die Offenheit zwischen uns ist gewachsen. Unsere Kinder benennen die Situationen, die für sie verletzend waren, sodass wir darüber ins Gespräch kommen und um Vergebung bitten können. Das ermöglicht ihnen und uns als Eltern, uns weiter zu entwickeln und den Blick nach vorne zu richten. Natürlich führt nicht jede erlebte schwierige Situation zu dauerhaften Schäden und oft lassen sich Dinge in einem offenen Gespräch gut klären.
Ein ganz wichtiges Learning für mich ist dabei, dass es nicht relevant ist, ob ich die Begebenheit genau so in Erinnerung habe, wie sie. Das ist nämlich meistens nicht so, mit unter gehen die Wahrnehmungen da signifikant auseinander, auch unter den Geschwistern. Das dann trotzdem so stehen zu lassen, wie sie es erlebt haben, fällt mir oft schwer, aber meine eigene Sicht der Dinge ist ja genauso subjektiv wie ihre und es hilft niemandem weiter, dann darüber zu streiten, wie es »wirklich« war.
Es hat mich oft Überwindung gekostet, weiter Nähe und Gespräche zuzulassen, weil ich die Vorwürfe meiner Kinder manchmal so ungerecht fand und mich gelegentlich lieber komplett zurückgezogen hätte. Es hätte an mehreren Stellen eskalieren und böse schief gehen können. Im Rückblick empfinde ich das als Gnade, aber es war eine harte Lektion für uns alle.
Nicht alles, was unser Nachwuchs als schmerzhaft empfindet, ist das Ergebnis unseres Versagens. Bei drei Kids mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten sind die gleichen Handlungsweisen zum Teil ganz verschieden angekommen. Zum Beispiel bin ich, als sie ältere Teenager waren, ins Bett gegangen, wenn sie abends noch unterwegs waren. Ich habe darauf vertraut, dass die vereinbarte Zeit eingehalten wird. Das haben zwei von ihnen als Vertrauensbeweis erlebt und eins nahezu als Vernachlässigung.
Loslassen und Vergebung erfahren
Trotz aller guten Entwicklung ist das Problem unseres Kindes nicht abschließend gelöst. Seine Auswirkungen reichen bis in die Gegenwart und sind oft schwer auszuhalten. Hier hilft mir der Gedanke, dass erwachsene Kinder irgendwann selbst verantwortlich sind für ihren Umgang mit Verletzungen. Bei aller Bereitschaft, meinen Teil der Verantwortung zu übernehmen, möchte ich mir auch nicht immer und immer wieder die gleichen Vorwürfe anhören oder vor Scham fast vergehen, wenn sie über Dritte bei mir ankommen, weil mein Kind sich bei anderen beschwert hat über erlebte Verletzungen. Irgendwann muss ein erwachsenes Kind selbstwirksam das Problem angehen, was auch beinhaltet, sich eigene Ansprechpartner und Vertraute zu suchen – die mir übrigens nicht zwingend gefallen müssen.
Ich darf erkennen, dass ich nicht für Heilung sorgen oder das Problem nachträglich lösen kann. Das muss ich auch nicht. Heilung kommt von Jesus.
Und seine Vergebung gilt auch für uns als Eltern. Das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle sind ziemlich starke Emotionen und es ist wichtig, da nicht stehen zu bleiben, sondern auch das Gott hinzuhalten und selbst Heilung zu empfangen. Man wird sonst schnell »steuerbar«, wenn man immer aus dem Gefühl heraus agiert, den Kindern noch etwas schuldig zu sein. Für diesen Lernprozess habe ich mir auch selbst Unterstützung gesucht. Unsere Kinder sind einfach großartig, wir haben auch vieles richtig gemacht. Interessanterweise stelle ich da aber selten einen kausalen Zusammenhang her. Bei Problemen bin ich schneller damit, die Ursache in meinem Verhalten zu suchen, als bei guten Entwicklungen.
Eltern sind Hirten, keine Ingenieure
Ein wirklicher Augenöffner waren für mich auch einige Vorträge von Russell Barkley, einem amerikanischen Psychologen und Psychiater, der als Fachmann auf dem Gebiet von ADHS gilt. Er gebraucht unter anderem das Bild eines Hirten bzw. Ingenieurs. Wir Eltern gehen oft davon aus, wir seien Ingenieure, als wären unsere Kinder bei ihrer Geburt ein weißes Blatt Papier und es läge allein an uns, sie zu »designen«. Das ist nach dem aktuellen Forschungsstand aber völlig falsch.
Unsere Kinder werden mit mehr als 400 psychologischen Merkmalen geboren, auf die wir kaum Einfluss haben. Sie sind ein einzigartiges Mosaik aus ihrer biologischen Herkunft. Wir sollten uns nach seiner Aussage mehr als Hirten betrachten. Hirten sorgen für die Herde, sichern sie, wählen gute Orte zum Weiden aus. Aber sie machen niemals aus einem Schaf einen Hund oder aus einem schwarzen Schaf ein weißes. Was für ein entspannender Gedanke für Elternschaft!
Und schlussendlich bin ich die Mama, die Gott für meine Kinder ausgesucht hat. Und das möchte ich gerne als Ermutigung an dich weiter geben:
Du bist genau die richtige Mama oder der richtige Papa für die dir anvertrauten Kinder!
Oft frage ich mich, ob Gott niemand eingefallen ist, der es besser drauf hat. Aber ich war scheinbar seine erste Wahl. Trotz meiner Ungeduld, meiner Emotionalität, meiner gelegentlich aufbrausenden Art, der fehlenden Sensibilität, des Genervt-Seins. Wir sind aneinander und miteinander gewachsen. Ich war und bin nicht die perfekte Mutter, die ich so gerne sein wollte, aber ich gehöre zu einem perfekten Gott, der auch Schmerz noch in Segen und Verletzung in Berufung verwandeln kann.