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»Bindungsgestört« in Beziehung

Wie eine feste Beziehung trotz Bindungstrauma/Verletzungen in der Kindheit gelingen kann

– von Judith Paulus

Ich war außer mir. Jetzt hatte ich einen tollen Mann kennengelernt, konnte mich auf die Beziehung zu ihm einlassen – und nun dieser Tumult im Inneren. In mir regten sich verletzte Anteile, die mir zuriefen: »Hau ab, beende das, es bringt dich um. Jetzt beginnt ein Krieg, und du musst dich schützen, du hast dich viel zu verletzlich gemacht.« Ich fühlte mich ohnmächtig, ausgeliefert, verzweifelt und war nur mit äußerster Anstrengung gerade noch arbeitsfähig.

Ich nehme dich mal hinein in die Anfänge der Beziehung zu meinem jetzigen Mann. Er könnte ein Lied davon singen. Von den vielen Situationen, in denen ich, oder besser verletzte Anteile in mir, sich aufbäumten und ein tiefes Misstrauen in unsere feste Beziehung zeigten. Situationen, in denen alter Schmerz mit aller Kraft unsere Beziehung durchrüttelte.

Allein meine innere Reaktion auf den Start unserer Liebesbeziehung zeigt deutlich, wie verletzt ich war. Ich habe damals daran festgehalten und habe mich nicht getrennt. Der Preis dafür war, sehr starke Gefühle auszuhalten, die mir sagten: Ich mache gerade einen riesigen Fehler und es geht um mein Überleben. Ich wusste sachlich und emotional, weshalb ich mit meinem Mann in Beziehung bin. Und dass ich das selbst entschieden habe. Frei.

Ich fühlte aber gleichzeitig eine riesige Verzweiflung, die mir in der ersten Woche unserer Beziehung den Boden unter den Füßen wegzog.

Langsam besserte es sich. Aber ich fühlte mich Jahre noch sehr unsicher in unserer Beziehung.

Mangel in der Kindheit
Mein Familiensystem habe ich als Kind so schwierig erlebt, dass ich davon eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung entwickelt habe. Ich habe emotional nicht das bekommen, was ich als Kind gebraucht habe. Das hat Folgen, die für mich am meisten in Beziehungen deutlich werden. Da, wo Misstrauen statt Vertrauen gewachsen ist, wo Verletzung statt Angenommensein stattgefunden hat, habe ich mir das gespeichert – und rufe es in jeder Beziehung automatisch ab.

Zu Beginn unserer Beziehung merkte ich zum Beispiel, wie schnell ich mich »eifersüchtig« fühlte. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis ich dieses Gefühl und Erleben mit meinem Partner teilen konnte. Ein Jahr, in dem ich die Gefühle »in mich hineinfraß« ebenso wie die Verzweiflung, die damit einherging. Mit anderen vertrauten Menschen habe ich nur langsam und schweren Herzens mein Erleben geteilt. Es fiel mir so schwer, darüber zu sprechen. Wenn beispielsweise eine andere attraktive Frau anwesend war, konnte mich das so stark triggern, dass ich in dem Moment ganz überzeugt davon war: Mein Mann möchte jetzt diese Frau anstatt mich. Dann befand sich mein inneres Kind zu 100 Prozent im totalen Stress.

Meine alten Lügen – Gedankenmuster aus der Kindheit – liefen auf Hochtouren: »Ich werde abgelehnt. Ich genüge nicht. Ich bin als Frau nicht attraktiv und schön genug. Ich werde verlassen und verraten.« Wer ist der Feind in diesem Szenario? Klar, der Mann der mir am nächsten steht. Den gilt es zu bekämpfen und vom Herzen weg zu halten. Denn mein inneres Kind wusste: Die tiefsten Verletzungen werden von den Personen zugefügt, die mir am nächsten sind. Als Folge dieser Gedanken knicke ich total ein. Mich verlassen Freude, Lebensmut, Schwung und Energie. Ich werde verspannt, ziehe mich in mich zurück. Ohnmacht und Verzweiflungsgefühl nehmen Überhand. Lieber greife ich meinen Mann an oder ziehe mich zurück und füge somit mir selbst zu, was ich von ihm nun erwartete: Ablehnung.

Heilung beginnt im Inneren
Rund sieben Jahre später kann ich sagen: Es kommt Ruhe hinein. In mein Herz, unsere Beziehung. Irgendwann unterwegs spürte ich, dass ich ihm zu vertrauen lernte. Ich sehe immer wieder sein Herz, seinen Umgang mit mir, seinen guten Willen, seine Absichten. Mein Vertrauen wächst mit der Zeit. Hätte ich mich nicht auf diese Beziehung eingelassen, könnte dieser Teil nicht wachsen. Dieser Anteil in mir hätte wahrscheinlich nicht gelernt, was er heute weiß: Dass es schön sein kann, eine ruhige Beziehung zu leben, in der es nicht jeden Tag heftigen Streit gibt und in der ich Verlässlichkeit und »so sein dürfen« erlebe. Es passiert nicht ständig etwas, was mein emotionales Überleben als Kind gefährdet.

Mein Vertrauen und mich Öffnen lohnen sich.

Es ist sogar so, dass ich diese Beziehung nicht verlieren möchte. Ich bin sehr gerne mit meinem Mann zusammen und habe mit ihm eine Familie gegründet. Die Eifersuchts-Gefühle sind nicht einfach weg, aber je mehr ich mich selbst liebe, mit mir gut umgehe und heiler werde, desto stiller wird das Gefühl der Eifersucht.

Mir war klar, dass ich hier Veränderung benötige. Egal wie oft und echt mein Mann mir seine Liebe zeigt – solange mein Herz den alten Lügen glaubt und mein inneres Kind nicht getröstet wird und nicht meine Zuwendung erfährt, bleibt es schwierig. Was braucht das Kind in mir? Es braucht den Trost, den es so lange nicht bekommen hat. Es war mit so viel Schmerz und Leid allein. Heute bin ich erwachsen und aus dem System raus. Jetzt kann (und muss) ich mich als Erwachsene »nachbeeltern« und in echte Ruhe kommen.

Diese Bereiche erlebe ich als hilfreich und heilsam:
Mein mutiges »drauf einlassen« auf die Beziehung im echten Leben: Verletzungen die in Beziehung geschehen sind, brauchen Beziehung, um zu heilen.

Ohne Hilfe von Menschen – sowohl Beratung, Therapie aber auch Freundinnen und Freunde – wäre ich heute nicht an diesem Punkt. Mich begeistert, immer wieder positiv überrascht zu werden in der Erfahrung:

»Mein Erleben darf so sein, meine Gefühle sagen mir etwas Wichtiges.«

Da werden mir Wert und Würde wiedergegeben. Ich kann endlich vieles erzählen, benennen, betrauern und verstehen.

Meine alltägliche Hausaufgabe: Ich lerne, was ich als Kind gebraucht hätte. Ich kümmere mich um mein inneres Kind. Ich spreche mit ihr, weine mit ihr, nehme sie auf den Arm. Langsam lernt sie: Der Krieg ist vorbei, sie ist sicher bei mir. Das bringt eine riesige Auswirkung: Ruhe in mir.

Noch eine alltägliche emotionale Hausaufgabe: Ich spüre, was ich heute brauche und übe mich im Umsetzen. Ich lerne, meine Gefühle zu fühlen, meinen Körper zu spüren und mich ganzheitlich stehen zu lassen und liebevoll mit all dem an und in mir umzugehen.

Jesus neu kennenlernen: Früher war Gott der harte, fordernde Richter, der mich niedermacht und verurteilt und dem ich nie ausreiche. Ein Spaßverderber. In den vergangenen Jahren konnte ich Jesus in Therapie und Beratung ganz anders kennenlernen. Unglaublich heilsam, wenn er z. B. meine Grenzen respektiert oder sich über meinen Charakter und meine Gaben freut. Oder mich einfach im Arm hält. Ich gehe plötzlich freiwillig zu ihm und lege mich in seinen Arm. Das bringt auch viel Ruhe und Heilung in mir.

Ich glaube, eine Beziehung mit Bindungstrauma zu gestalten, kann anstrengender und chaotischer sein, als ohne. Wer bereit ist, das Abenteuer zu gestalten, sich selbst kennenzulernen und Hilfe anzunehmen, kann leckere Früchte ernten. Trau dich, dir selbst zu begegnen – und Jesus.

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