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Die Hintergrundmelodie des Lebens

Vom Einfluss vorgeburtlicher Erfahrungen

– von Ute Chan

»Wir gehen immer von der Frucht zur Wurzel!« So heißt ein Grundsatz, der unsere Teilnehmenden in der Fortbildung Gebetsseelsorge und Lebensberatung vom ersten bis zum letzten Tag verfolgt. Wie aber kriegt man eine Wurzel zu fassen, die tief unter der Oberfläche des Bewusstseins liegt, die sogar noch in die Zeit vor der Geburt zurückreicht?

In der Seelsorge und Psychotherapie spricht man schon lange von der »Heilung der Erinnerung«. Man war sich bewusst, dass viele Menschen seelische Wunden mit sich tragen, die der Heilung bedürfen. Je früher in der Kindheit die Verletzung eines Menschen geschehen ist, desto tiefer liegt sie im Unterbewusstsein vergraben.

Wusstest du, dass wir in allem, was wir tun, nur zu 10 Prozent von unserem Bewusstsein gesteuert sind und unser Unterbewusstsein 90 Prozent unserer Handlungen verursacht? In unserem Unterbewusstsein haben wir alle unsere Kindheitserfahrungen seit unserer Zeugung abgespeichert – mitsamt unseren Reaktions- und Überlebensmustern, die wir im Laufe unseres Lebens entwickelt haben.

Wahrnehmung von Anfang an
Während der Schwangerschaft und eine ganze Weile nach der Geburt lebt das Kind in einer symbiotischen Beziehung zu seiner Mutter. Über das Nervensystem hat das Kind Zugang zur Erlebniswelt der Mutter mitsamt allen zu ihr gehörenden Gefühlen.

Wenn die schwangere Mutter sich freut, freut sich das Kind in ihr mit, wenn sie sich ängstigt, spürt auch das Kind diese Angst.

Gefühle und Gedanken sind sowohl seelische als auch körperliche Phänomene. Hormone und andere chemische Stoffe entstehen im Körper als Reaktionen auf Gedanken oder Gefühlszustände und haben auch umgekehrt wieder ihre Wechselwirkung im seelischen Erleben. Bereits ab dem 16. Tag im Leben eines Embryos bilden sich Nervenzellen und die Entwicklung des Gehirns beginnt. Die wichtigste Entdeckung dabei ist, dass das Gehirn auch außerhalb der eigentlichen Gehirnzellen arbeitet, denn der gesamte Körper ist auf allen Ebenen über kommunizierende Nervenzellen vernetzt. Das heißt: Dieser kleine Organismus kann auf der Ebene der Nervenzellen Informationen speichern sowie Wahrnehmungen haben, ohne die große Schaltzentrale eines voll ausgereiften Gehirns zu benötigen.

Und alle diese vorsprachlichen ersten Informationen und Wahrnehmungen werden in einem späteren Teil des Gehirns gespeichert, im limbischen System, welches keine Zuordnung zu Raum und Zeit erkennt. So leben dann diese ganz frühen Wahrnehmungen in uns weiter und prägen unser weiteres Erleben. Sie begleiten uns wie eine Art Hintergrundmelodie, ohne dass wir das direkt erkennen könnten. Es entsteht ein Lebensgefühl, das einfach schon immer da war. Diese frühen Erinnerungen sind nicht als sogenannte »Ich-Erinnerung« zugänglich, sondern werden eher als anflutende Gefühle und Wahrnehmungen empfunden.

Die vorgeburtliche Lebenszeit umfasst also die körperliche Entwicklung des Menschen ebenso wie den Beginn und die sich ganz individuell entwickelnde Seele und den Geist.

Bedeutung von Bindung und Resonanz
Bindung und Beziehung schaffen auch in unserem späteren Leben einen Raum, in dem seelisches Erleben stattfinden kann, in dem wir uns selbst, unsere Impulse, Gefühle und unsere Bedürfnisse in der Resonanz mit anderen Menschen wahrnehmen können. Ein Kind lernt im Lauf seiner Entwicklung, sich über die Bindung an seine Mutter und seinen Vater selbst wahrzunehmen. Ohne eine Bindung an eine Bezugsperson kann die seelische Entwicklung eines Kindes verkümmern.

Emotionale Bindung ist also lebensnotwendig, nicht nur für unsere Seele, sondern in ganzheitlichem Sinn für Körper, Seele und Geist.

Für das Verständnis von menschlicher Entwicklung und seelischer Gesundheit ist dabei von Bedeutung, wie sich diese Bindungen gestalten.

Andere Familienmitglieder wie Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten erweitern den Beziehungsrahmen. Später werden Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Freunde und Freundinnen wichtig und dann erste Beziehungspartner. Auch im Erwachsenenalter spielen unsere seelischen Bindungen und wie sie sich gestalten eine große Rolle für unser Wohlbefinden. Wir binden uns an Liebespartner, an Freunde, Verwandte, an die eigenen Kinder oder auch – auf geistiger Ebene – an ein Projekt oder eine Aufgabe. Dies führt dazu, dass wir uns ausgeglichen fühlen und unser Leben befriedigend gestalten können. Wir sind dann in der Lage, Freude und Kummer zu teilen und uns als Teil einer Gemeinschaft, überhaupt als Teil dieser Welt zu begreifen.

Die Folgen frühkindlichen Bindungsmangels
Einsamkeit und Isolation entstehen oft durch einen Bindungsmangel und führen auch oft wieder zu Bindungsmangel. Die Fähigkeit, Beziehungen auf eine Weise zu gestalten, die eine Bindung entstehen lässt, ist dann eingeschränkt. Auch seelische Verstörung und Krankheit wie Depression, Angstzustände oder Suchtverhalten haben ursächlich oft mit einem gestörten Bindungserleben zu tun. Es hat in der Kindheit begonnen (oft schon im Mutterleib) und zieht sich durch das ganze Leben hindurch. Auch dissoziales Verhalten hat hier eine Wurzel. Je früher eine befriedigende Bindungsentwicklung im Leben eines Menschen dauerhaft gestört wurde, desto gravierender sind die Folgen im weiteren Lebensverlauf bis ins Erwachsenenalter.

Positive und negative Bindungserfahrungen leben als Teil unserer inneren Welt und beeinflussen von dort aus die Gefühle über uns selbst und über andere.

Wie aber kommt man an diese tieferliegenden Erinnerungen heran?
In der Psychotherapie gibt es ganz vielfältige und durchaus seriöse Techniken, die in eine leichte Trance führen, oder auch körperorientierte Therapien, die diese sehr frühen Bewusstseinsinhalte zugänglich machen. Wenn ich als Christ an einen Schöpfer glauben kann, der nicht nur das ganze Universum, sondern auch mich persönlich geschaffen hat, dann entwickeln sich in der christlichen Seelsorge und Therapie noch ganz andere Möglichkeiten.

Diese Sätze aus Psalm 139 begeistern mich immer wieder: »Schon als ich im Verborgenen Gestalt annahm, unsichtbar noch, kunstvoll gebildet im Leib meiner Mutter, da war ich dir dennoch nicht verborgen. Als ich gerade erst entstand, hast du mich schon gesehen.« Wir sind im Mutterleib herangewachsen, verborgen vor aller Welt, verborgen vor den Augen unserer Eltern. Aber vor Gottes Augen waren wir nicht verborgen, er allein hat uns gesehen.

Wenn wir also in der Seelsorge diese geheimnisvolle erste Zeit unseres Lebens, die vor allen menschlichen Augen verborgen war und an die auch wir keine Erinnerungen haben, vor Gott ausbreiten wollen, dann können wir unseren Schöpfer fragen. Und in der Seelsorge können wir Menschen dabei helfen:

  • Was hast du gesehen, als du mich im Mutterleib gebildet hast?
  • Wie waren die Umstände meiner Eltern, die Situation meiner Familie?
  • Wie habe ich schon damals reagiert und was macht das mit mir heute?

Wir können IHN bitten, die Wurzeln aufzudecken für die Früchte in unserem heutigen Leben.

»Wie lange ist das denn schon so?«, frage ich oft meine Ratsuchenden in der Seelsorge. Wenn sie mir dann antworten: »Das war schon immer so, ich kenne das gar nicht anders!«, fühle ich mich eingeladen, mit ihnen die Zeit vor ihrer Geburt oder kurz danach anzuschauen. Denn gerade das, was »schon immer so war«, beschreibt diese typische, bleibende Hintergrundmelodie in unserem Leben, die sich während der tiefen Verbundenheit mit der Mutter ausbildet.

Manche geben Gott nachträglich ihre Zustimmung, dass ER sie überhaupt ins Leben ruft. Andere entscheiden sich ganz neu, dass sie geboren werden wollen. Wieder andere erleben Befreiung von permanenten Ängsten, die sie erstmalig als die früheren Ängste ihrer Mutter identifizieren und die gar
nicht wirklich ihre eigenen sind. Als Seelsorgerin erlebe ich sehr bewegende Veränderungen im Leben von Ratsuchenden, wenn sie diese Zusammenhänge in ihrem Leben erkennen können und in der Begegnung mit Jesus selbst Heilung erfahren.

Eine Klientin der Autorin beschreibt das so:

Während meiner Traumatherapie-Zeit spürte ich, dass ich ein innerliches starkes NEIN zum Leben, zu mir selbst und zu Aktivitäten hatte. Ich war auf der Flucht vor mir selbst und allem. Ich bin das Kind von Kriegskindern und meine Mutter hat zu Beginn ihrer ersten, ungewollten Schwangerschaft mit mir mehrere massive Abtreibungsversuche unternommen. »Ich bin halt passiert und fest hängen geblieben.« Dieses vorgeburtliche NEIN hat sich manifestiert. In der Traumatherapie merkte ich an einem Punkt, dass das NEIN zu einem JA werden kann, wenn ich aufhöre zu kämpfen (Wut) und Gott reden lasse. Er hat mir persönlich zugesprochen: »Vor Grundlegung der Welt hatte ich ein JA zu dir. Du bist passiert und erst danach kam das NEIN, aber nicht von mir! Mein JA steht!« Das ist eine Tatsache, weil ich bis heute lebe! Das große NEIN ist vorbei; sein JA zu mir – ganz neu zugesprochen, Manifestationen gelöst und neu angenommen – hat gesiegt! Ein persönliches Wort hat er mir noch geschenkt: »Du bist eine Gesegnete – geh deinen Weg in Frieden!« Und diesen Frieden habe ich seither tief in mir!


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