Was uns auslaugt und was uns Energie schenkt
– von Jörg Berger
Stress belastet unser Miteinander. Wir werden ungeduldig und reizbar. Wer erschöpft ist, verliert oft seine Ziele aus dem Blick.
»Du weißt ja, was man dagegen macht«, sagen andere neuerdings, wenn ich sichtlich müde bin. Manchmal glaube ich, etwas Ironie zu hören. Seit ich das Buch über Erschöpfung geschrieben habe, habe ich das Recht verloren, erschöpft zu sein. Eine Auswirkung, die ich nicht bedacht habe. Daran, dass ich als Paartherapeut keine Eheprobleme haben sollte, jedenfalls keine ernsthaften, habe ich mich schon gewöhnt. Das hat auch Vorteile. Es diszipliniert mich, Themen in unserer Beziehung nicht gefährlich werden zu lassen. Mein Recht auf seelische Störungen dagegen habe ich mir zurückerobert, obwohl ich Therapeut bin. Es gibt frühe seelische Schäden, die sich nicht in dem Sinne heilen lassen, dass sie ganz verschwinden. Heilung bedeutet dann, die eigenen Schädigungen und Begrenzungen anzunehmen.
Man kann so mit ihnen umgehen, dass sie den eigenen Beziehungen und Aufgaben nicht schaden. Dann wächst unsere Liebesfähigkeit sogar, weil wir ergänzungsbedürftig sind. Unsere Schäden und unser Unvermögen sind außerdem Berührungspunkte für Gott. Als barmherziger Gott ist er uns da gerne nahe. Er freut sich über Teamwork und lässt seine Kraft bevorzugt in den Schwachen wirken. Deshalb stehe ich zu meinen emotionalen Eigenheiten und Grenzen.
Damit sind wir schon am Kern einer Anti-Erschöpfungsstrategie: Im Einklang mit sich selbst leben dürfen und gerade dadurch am besten leben, lieben und leisten.
Warum ein normales Leben erschöpft
Leider gibt uns unsere Gesellschaft keine Orientierung für ein gutes Leben. Es ist viel zu viel, was wir alles haben, tun, wissen, können und schaffen sollen. Und es ist viel zu wenig, was unsere Grundbedürfnissen stillt: Nähe, Ruhe, Kreativität, fröhliches Miteinander und sinnvoller Einsatz. Die Bibel empfiehlt Glaubenden: »Richtet euch nicht länger nach den Maßstäben dieser Welt.« (Römer 12,2 nach der neuen Genfer Übersetzung) oder noch schöner in der Zürcher Übersetzung: »Fügt euch nicht in das Schema dieser Welt.« Die Bibel hat dabei im Blick, wie wir ein Leben im Einklang mit Gott und aus seiner Kraft heraus führen können. Als Psychotherapeut kann ich ergänzen: Genau das brauchen wir auch, um in Einklang mit dem zu leben, was die Bindungspsychologie, die Psychologie emotionaler Bedürfnisse und die Psychotherapieforschung herausgefunden haben.
Gegen den Strom zu schwimmen, hat natürlich seinen Preis. Doch wenn wir uns mit diesem Preis freikaufen können und in ein Leben finden, das leichter, kraftvoller und glücklicher ist, zahlen wir ihn vermutlich gerne. Konkret bedeutet das vor allem dreierlei:
Sich fröhlich schämen lernen.
Wir sind soziale Wesen. Wenn wir hinter dem zurückbleiben, was andere erwarten und was man angeblich alles haben, wissen, können und schaffen muss, dann schämen wir uns. Ich könnte eine lange Liste schreiben, wo ich überall hinter dem zurückbleibe, was man von einem gebildeten, erfolgreichen und sozialen Menschen erwarten würde. Wenn das sichtbar wird, schäme ich mich. Gleichzeitig fühle ich mich unglaublich frei. Ich bin glücklich, dass ich nicht alles schaffen muss. Ich darf so im Einklang mit mir und meinen Werten leben. Außerdem schütze ich dadurch auch die Beziehungen zu den Menschen, die ich liebe und die mir wichtig sind. Denn für sie bin ich da, auch wenn anderes auf der Strecke bleibt.
Fröhlich mit Schuldgefühlen und Bestrafung leben.
Die meisten Menschen können damit leben, wenn wir einmal »Nein« sagen. Doch hin und wieder wird uns jemand dafür bestrafen: mit Bemerkungen, die schmerzen, mit einem Vorwurf, einer Abwertung oder der Unterstellung schlechter Absichten. Vielleicht wird auch jemand von uns abrücken oder uns das Vertrauen entziehen, weil wir etwas nicht mitmachen. Wir könnten uns nun abstrampeln, um doch Verständnis zu finden. Doch das wäre einerseits erschöpfend, andererseits wird es kaum funktionieren. Denn die Strafe erfüllt ja erst ihre Absicht, wenn wir wieder das tun, was erwartet wird. Wenn ich so etwas erlebe, tut es mir weh. Mein Gewissen regt sich und ich frage mich, ob ich meine Freiheit nicht auf Kosten anderer übertreibe. Aber meistens habe ich ja meine Gründe und bin mir innerlich sicher. Dann offenbart die Strafe auch: Da ist ein Mensch, der über mich bestimmen will und dazu Mittel einsetzt, die ihm nicht zustehen und die alles andere als fair sind. Ich empfinde eine große Würde und Freude, wenn ich mich dann nicht von unreifen Menschen bestimmen lasse – trotz Strafe.
Entzugserscheinungen ertragen lernen.
Unsere Gesellschaft stößt uns in einen Teufelskreis. Ihr Tempo überreizt uns und verringert unsere Erlebnisfähigkeit. Den Geschmack eines Apfels, der ein Sinnesfeuerwerk sein kann, nehmen wir kaum noch wahr. Der Blick in den Himmel berührt uns nicht mehr tief. Dann brauchen wir Ersatzbefriedigungen, die intensiv sind, damit wir sie mit stumpfen Sinnen spüren: kaufen, essen, Serien schauen, außergewöhnliche Erlebnisse, im Internet nach Neuem suchen. Hier schließt sich der Teufelskreis. Denn was ist der Geschmack eines Apfels, der Blick in den Himmel oder die Umarmung einer Freundin gegen die Intensität unserer Ersatzbefriedigungen? Es gibt nur einen Weg aus der Überreizung: den Entzug. Wir müssen den Weg gehen, den auch Suchtkranke gehen. Sie wissen, dass sie die Sucht kaputt macht, können sich aber kein glückliches Leben ohne das Suchtmittel vorstellen. Der erste Glücksmoment ohne Droge ist wie ein Krokus, der die Schneedecke durchstößt. Also mutig in den Entzug: auch einmal Nichtstun, innere Leere aushalten, den Gefühlen begegnen, die wir überdeckt haben, Vertrauen, dass aus der Langeweile wieder Lust auf gute Dinge entsteht und in alledem nicht alleine bleiben.
Wann ist Entzug bewältigt? Wenn wir scheinbar grundloses Glück spüren, ausgelöst durch eine Kleinigkeit am Rande unseres Alltags – in der Sprache des Glaubens ausgedrückt: wenn wir (wieder) Gott in allen Dingen finden.
Die Erschöpfung feiern
In den letzten Tagen habe ich einige Gespräche mit Klienten geführt, die eine Therapie abgeschlossen haben. Dann blicken wir zurück auf all das, was sich in den letzten Monaten oder Jahren getan hat. Jedes Happy End ist anders. Doch in einer Hinsicht gleicht sich das Ergebnis: Menschen leben mehr in Einklang mit sich selbst. Ihr Leben passt mehr zu dem, was ihnen wichtig ist, woran sie glauben und was sie brauchen. Damit geht die Entwicklung über das hinaus, was sich Menschen am Anfang gewünscht haben, nämlich vor allem unangenehme Symptome wie Erschöpfung loszuwerden. Einen so schweren Weg mag niemand noch einmal gehen. Doch niemand möchte auf das verzichten, was er auf dem Weg gewonnen hat.
Deshalb ist die Erschöpfung hinterher ein Glück. Körper und Seele haben gezeigt: So geht es nicht mehr weiter. Du hast dich abschneiden lassen von dem, was dir Kraft gibt und was dich glücklich macht. Du hast den falschen Menschen Macht über dich gegeben. Körper und Seele haben eine wichtige Botschaft überbracht, die wir gehört und beachtet haben. Aus der Hinterher-ist-man-immer-schlauer-Perspektive könnten manche sogar sagen: »Hätte ich früher auf die Botschaft der Erschöpfung gehört, hätte ich die Therapie gar nicht gebraucht.«