– von Oliver Linder
Wir Menschen sind auf Gemeinschaft angewiesene Wesen. Von unseren ersten kleinsten Lebenszeichen im Mutterleib an, bis zu unserem letzten Atemzug sind wir Teil einer Gemeinschaft und benötigen Gemeinschaft. Von der Struktur unserer Zellen aufwärts brauchen wir Austausch mit dem, was uns umgibt und geben in das ab, was uns umgibt.
Das gilt ganz grundsätzlich in Bezug auf unsere Körperfunktionen und weitet sich in unser soziales Zusammenleben aus. Wir atmen Sauerstoff ein, den die Pflanzen bereitgestellt haben, wir geben CO2 ab, mit dem die Pflanzen Photosynthese betreiben. Wir essen und trinken, was draußen gewachsen ist, und es verlässt uns wieder etwas, das wir in den Kreislauf zurückgeben. Wir brauchen den Austausch mit andern, deren Fähigkeiten, das was uns zur Verfügung gestellt/geschenkt wird. In allem, was wir tun, stehen wir in Kontakt mit unserer Umwelt.1
Wenn das Thema Einsamkeit sich derzeit stark in den Medien niederschlägt, zeigt sich, dass wir in unsicheren Zeiten mit großen Umbrüchen leben und uns dadurch über diese Zusammenhänge klarer werden. Wir spüren, was wir grundsätzlich brauchen, um leben zu können. Fragen an die Versorgungszuverlässigkeit, an die Belastbarkeit unserer Lebensweise und Fragen der persönlichen Sicherheit drücken aus, dass wir in Abhängigkeit vom Äußeren leben. Von diesen Fragen ist es zum Thema Einsamkeit nicht weit, es ist letztlich eine andere Seite im selben Buch.
Radikale Bezogenheit
Als Erwachsenen ist uns unser Abhängig-Sein oft nicht bewusst, als Kinder und Jugendliche ist die Abhängigkeit existentiell allgegenwärtig. Kinder sind in allem, was sie tun, auf andere angewiesen, je jünger desto grundsätzlicher. Säuglinge sind in jeder Körperfunktion auf die Betreuungspersonen bezogen. Wenn mit dem Wachstum auch die Kreise über Kindergarten und Schule größer werden, bleiben Kinder in ihrem Bezugsrahmen auf Erwachsene angewiesen – auf deren Erlaubnis, Unterstützung, Wohlwollen und Liebe. In der Pubertät wendet sich die Aufmerksamkeit dann zwar zunehmend von der Ursprungsfamilie ab – der Lebensrahmen wird noch weiter – die Bezogenheit auf andere, die Notwendigkeit von Beziehungen aber bleibt. Die Abhängigkeit erstreckt sich weit über Beziehungsaspekte und schließt Fragen der materiellen und medizinischen Verantwortung sowie rechtliche Belange mit ein.
Das Bedürfnis der Bezugnahme kann zu keinem Zeitpunkt im Leben zum Erliegen gebracht werden.
Erwachsenen gelingt es teilweise zwar, einen gewissen Bedürfnis-Aufschub hinzunehmen, Kinder und Jugendliche können das weniger lange aushalten. Das liegt in der neurologischen Beschaffenheit des Belohnungssystems begründet und ist mittlerweile wissenschaftlich gut untersucht.2 Wir sehen, die
Bezugnahme wird viel radikaler und kompromissloser ausgelebt, je jünger wir sind. Babys schreien, Kleinkinder quengeln und auch wenn die Strategien zur Kontaktaufnahme differenzierter und eleganter werden, bleibt der Drang, uns mit anderen Menschen zu verbinden, unstillbar groß.
Von daher wundert es nicht, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Lebensumfeld sehr schnell nach Ersatz suchen, wenn der Bezugswunsch über längere Zeit frustriert wird. Mir selbst ist dies erstmals in den Videoaufnahmen aus rumänischen Kinderheimen begegnet. Man sah in diesen Filmsequenzen emotional und sozial stark vernachlässigte Kinder, die sich in ihren Betten rhythmisch vor und zurück bewegten, um sich zu beruhigen. Wenn auch in viel weniger dramatischen Ausprägungen, können wir Selbstberuhigungstechniken bei Kindern und Jugendlichen mit frustriertem Beziehungswunsch beobachten. Elektronische Medien und Suchtmittel sind dazu in hervorragender Weise geeignet. Durch die unmittelbare Wirkung auf das Belohnungssystem im Gehirn sorgen sie für eine Dopaminausschüttung, die Beziehungsvernachlässigung vergessen lässt – so lange, wie die Substanz wirkt oder das Handy benutzt wird.
Einsamkeit und Suchtverhalten hängen unmittelbar zusammen.
Depressionen und Angsterkrankungen sind hierzu weitere Parallelphänomene und nehmen weltweit zu. Bemerkenswert ist dabei, dass Erkrankungen wie Sucht, Depression und Ängste solche sind, die nur durch eine interaktionelle Behandlung, also eine Form der Beziehungsmedizin (einer Psychotherapie), nachhaltig behandelt werden können.3 Diese Zusammenhänge drängen sich gleichsam auf.
In einer Gesellschaft, die, wie eingangs erwähnt, stark verunsichert ist, nehmen auch die Kompensationsmechanismen mit Krankheitswert zu. Interessanterweise bleiben wir dabei oft in der Ehrfurcht vor den Symptomen stehen. Wir beklagen die Teens, die von ihren digitalen Endgeräten kaum zu lösen sind und empören uns über Cannabis-Legalisierungen.
Das erinnert mich an Menschen, die sich über Durchfall und Fieber echauffieren, anstatt aufzuhören, verdorbene Lebensmittel zu sich zu nehmen. Und dieses Beispiel ist belastbar: Wie Fieber und Durchfall Symptome sind, die je nach Ausprägung einer Behandlung bedürfen, so ist es unausweichlich wichtig, sich dem Phänomen beziehungskranker Jugendlicher und Kinder anzunehmen. Vornehmlich dringlicher ist es dabei, sich dem zugrundeliegenden Beziehungsanspruch zuzuwenden. Dort braucht es grundsätzliche, heilsame Begegnung.
Um im Bild zu bleiben: Unsere Jugendlichen und Kinder brauchen im übertragenen Sinne ausgeglichene und gesunde »Beziehungsernährung«. Hier sind es die Erwachsenen, die in der Verantwortung stehen. Wir Erwachsenen sind dafür zuständig, für das Vorhandensein gesunder und nahrhafter Alternativen zu sorgen.
Wir dürfen unsere Kinder nicht ihren eigenen, in der Not gewählten, Kompensationsmechanismen überlassen.
Neben diesem Versorgungsauftrag, der sich auf die Kinder und Jugendlichen bezieht, ist es zum zweiten unabdingbar, sich auch selbst mit guter »Beziehungsnahrung« zu versorgen. Hierzu einige Beispiele und praktische Anwendungen die helfen könnten, von Besorgten zu Besorgenden zu werden, um so echte Verantwortung übernehmen zu können.
1. Erwachsene machen den ersten Schritt
Kinder und Teenager sind auch in Konflikten existentiell abhängig von ihren Fürsorgenden. Wenn wir unseren Kindern Beziehungsfähigkeit vermitteln wollen, dann müssen wir dieses Machtgefälle bei Konflikten berücksichtigen. Es ist notwendig, dass wir Erwachsenen in Konflikten mit unseren Kindern und Jugendlichen den ersten Schritt zur Klärung unternehmen, auf sie zu gehen, wenn die Beziehung gestört ist. Auch wenn unsere Kinder uns manchmal zuvorkommen und nach einem Konflikt wieder Nähe suchen, liegt der Schlüssel dann dennoch bei der Bereitschaft der Reiferen und Erfahrenen. Wir dürfen die Verantwortung für die Beziehung übernehmen. Wir dürfen unsere Kinder einladen, mit uns gemeinsam mutig Scham und Schuldfragen in einem Konflikt anzuschauen, um zu einer Lösung zu kommen. Überzeugungen wie »Solang du deine Füße unter meinem Tisch stellst, hast du gefälligst auf mich zu hören.« verfestigen stattdessen Machtstrukturen des Stärkeren über den Schwächeren und machen beide Parteien hilflos.4
2. Erwachsene üben sich in Beziehungs- und Sprachfähigkeit
Nur Erwachsene, die sich mit ihren eigenen Beziehungsmustern auseinandersetzen, können aktiv Muster mit ihren Kindern und Jugendlichen gestalten. Punkt 2 ist die Bedingung für Punkt 1. Wenn unsere eigenen Beziehungen beispielsweise von Bitterkeit, Gekränkt-Sein und Unterlegenheitsgefühlen bestimmt sind, werden wir kaum in der Lage sein, in Bezug auf unsere Kinder reif, einladend und heilsam Konfliktlösung vorzuleben oder anbieten zu können. Verletzte Menschen neigen zudem dazu, eigene Verletzungen in andere Beziehungen zu projizieren. Eine konstruktive Haltung zum eigenen Beziehungs-Lern-Prozess bietet hingegen die Grundlage, wirklich Vorbild zu sein, und stellt die notwendige eigene Offenheit zur Verfügung. Unsere Kinder lernen am Modell und das Modell ist unser Leben, nicht unser Reden.
Fragen, die in diesem Punkt zur Selbstreflexion dienen, können lauten:
- Bestimmen Stolz, Gekränkt-Sein oder Rachegedanken meine eigenen Beziehungen zu anderen Erwachsenen?
- Wo sehne ich mich nach Frieden und wie kann ich dazu konkret beitragen?
- Spielt der Satz »Jetzt soll der erst mal kommen.« bei mir eine Rolle?
- Bin ich in der Lage, eigene Gefühle differenziert zu beschreiben, oder bleibe ich bei Zorn und Gleichgültigkeit stehen?
3. Gesellschaft gestalten
Wir sorgen gemeinsam für eine Gesellschaft, die Beziehungspflege unterstützt, anstatt Menschen zu isolieren und auszuschließen. Wenn Beziehungspflege vor der eigenen Wohnungstür endet, wird sie unauthentisch. Wenn Liebe und Fürsorge eine Frage der eigenen vier Wände bleiben, errichten wir Wagenburgen. Wagenburgmentalität sperrt die Welt aus und zwingt die, die in der Wagenburg leben, in ein selbstgemachtes Gefängnis. Das hat Folgen. Die Frage des kategorischen Imperativs (»Könnte mein Handeln eine allgemeine Maxime sein?«) und die Bergpredigt (Matthäus 5–7) bieten eine Grundlage. Kultivierung von Monokulturen macht einsam und anfällig für Krankheiten. Wir selbst sind und bleiben Teil dessen, was um uns herum in der Welt geschieht. Fragen wir uns: Ist der Tellerrand Einladung oder Abgrund, endet hinter dem Horizont die Welt oder sind dort neue Länder zu entdecken?
Verantwortung für die eigene Beziehungsfähigkeit zu übernehmen, ist die vielleicht wesentlichste Investition in ein gelingendes Leben.
Dabei zahlt sich die Rendite eines versöhnten Lebens sowohl für unsere Kinder als auch in Bezug auf uns selbst aus. Wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, in der Menschen befriedet mit sich und ihren Nächsten lebten, hätte es wenig Platz für giergesteuerte Egomanie und menschenverachtende Großmannssucht. Wir können jederzeit den Mut aufbringen, Raum zu gestalten in einer Gesellschaft, in der es Platz gibt, sich zu entfalten.
Das bedeutet konkret, materiell und emotional zu investieren, um Räume zu schaffen, in denen Menschen ein bezahlbares Zuhause finden können, es ausreichende Therapieplätze, gut ausgestattete Krankenhäuser und Kitas gibt, in denen eine Solidargemeinschaft wirklich greifbar ist. Es bedeutet, in ein robustes, also wirkungsvoll ausgestattetes Helfersystem zu investieren und Institutionen und Vereine zu unterstützen, die auf Versöhnung und Gesundheit ausgerichtet sind. Fangen wir an!
- vergl. Dr. Andreas Weber: Sein und Teilen, Eine Praxis schöpferischer Existenz 2017 ↩︎
- vergl. Konrad K, Firk C, Uhlhaas PJ: Brain development during adolescence: neuroscientific insights into this developmental period. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 425–31. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0425 ↩︎
- vergl. Lancet Psychiatry 2024; 11: 731-74 ↩︎
- vergl. Watkins & Shulmann, Towards Psychologies of Liberation 2008; S.81-104 ↩︎