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Empathie – das Gegenmittel zu Einsamkeit

– von Ira Schneider

Einsamkeit ist eins der bedrohlichsten und gefährlichsten Gefühle überhaupt. Sie geht zutiefst an unsere Substanz. Paare tun alles, um keine Einsamkeit zu spüren. Für viele Paare ist es einfacher, sich zu streiten, als mit ihrer Einsamkeit in Kontakt zu kommen. Ein wohltuendes Mittel gegen Einsamkeit ist Empathie. In diesem Artikel möchte ich dir vier verschiedene Ebenen von Empathie vorstellen.

Ein Paar braucht Empathie auf folgenden Ebenen:

  • erste Ebene: in Bezug auf seine individuellen Nöte und Belastungen
  • zweite Ebene: in Bezug auf die Themen und Beziehungswünschen, die jeder Einzelne beim jeweils anderen bezüglich der Paarbeziehung anspricht
  • dritte Ebene: in Bezug auf seine alltägliche Kommunikation, die einer einfühlsamen Sprache bedarf
  • vierte Ebene: in Bezug auf seine Sorgen, Anliegen und Gedanken, die es bezüglich der Kinder bewegt und über die es spricht

Für Empathie benötigen wir also eine Menge Imagination. Wir brauchen Fantasie und Vorstellungskraft, um uns in eine andere Welt einzudenken, ja einzufühlen.

Eindenken und Einfühlen unterscheidet sich hierbei. Eindenken genügt nicht. Das ist ein rein kognitiver Prozess. Wir brauchen die Fähigkeit, uns einzufühlen, das ist ein emotionaler Prozess und der erfordert von unserer Ja-Gesinnung eine große Portion emotionales Engagement.

Ich möchte dir die Ebenen an einem Beispiel näherbringen. Ellion und Dana haben vier Kinder. Sie sind bereits siebzehn Jahre verheiratet. Im Außen funktionieren sie hervorragend. Man könnte sagen, dass sie ein funktionales Paar sind. Sie sprechen sich ab, haben klare Alltagstrukturen, wechseln sich mit den Kindern ab, und wenn andere zu Besuch sind, läuft alles rund. Dieses Team, das nach außen hin hervorragend zusammenspielt, ist im Innen voller Schmerz. Über siebzehn Jahre hinweg hat sich in Ellions Herz eine große Enttäuschung gegraben. Er machte immer wieder die Erfahrung, dass es Dana schwerfällt, Empathie zu zeigen. An Dana und Ellions Dynamik lassen sich die vier Ebenen der Empathie in einer Paarbeziehung aufdröseln:

Erste Ebene (mitfühlende Anteilnahme an den individuellen Angelegenheiten des Gegenübers):
Als Ellions kleine Schwester schwer erkrankte, wünschte er sich in seiner Angst und Sorge um die Schwester den Trost seiner Frau. Doch Dana war zu beschäftigt mit ihrer Arbeit und konnte diesen Trost nicht leisten.

Zweite Ebene (Wünsche in der Paarbeziehung):
Ellion offenbarte sich selbst. Selbstoffenbarung geht immer mit Verletzlichkeit einher. Er teilte Dana mit, dass er gern mehr Zweisamkeit hätte. Dana verbringt gern Zeit mit ihrer Familie und die Wochenenden verbringen sie nicht selten im Garten von Danas Eltern. Ellion vermisst aber die Zeit zu zweit. Dana hingegen nimmt diesen Wunsch nicht ernst. Sie lässt keine Betroffenheit zu. Sie kann sich nicht in ihn hineinversetzen und spüren, was Ellion sich wünscht.

Dritte Ebene (Empathie in der alltäglichen Kommunikation):
Diese Ebene bleibt bei Ellion und Dana unbeantwortet. So hat Ellion zum Beispiel für die Küche neue Geschirrhandtücher gekauft. Er hat sich, nachdem er lange hin und her überlegt hat, entschieden, die etwas teureren zu nehmen, da die letzten schnell rissig geworden waren. Dana macht ihm nun jedoch für die höheren Ausgaben Vorwürfe, hört aber nicht hin, welche Gedanken er sich vorher gemacht hat. Auch hier bleibt die Empathie aus.

Vierte Ebene (Sorgen und Anliegen bezüglich der Kinder):
Auch auf dieser Ebene erlebt Ellion kein Mitgefühl. Er holt die Kinder nachmittags immer ab. Für ihn bedeutet das viel Stress, da er pünktlich Feierabend machen muss. Seine Chefin hat die Gewohnheit, immer kurz vor Feierabend noch mit einer Aufgabe um die Ecke zu kommen. Das bringt Ellion in eine innere Zerrissenheit. Wenn er Dana davon erzählt, zeigt sie sich abwesend und uninteressiert. Dana hat keine inneren Schwingungsmöglichkeiten. Sie ist nicht in der Lage, mit Ellions Gefühlsleben mitzuschwingen und sich wahrhaftig in sein Innenleben einzufühlen. Das tut ihm weh. Das schmerzt. Fehlende Empathie für Ellion näht hier das Kleid der Einsamkeit.

Sicherlich hat nicht ein einzelnes Erlebnis dafür gesorgt, dass Ellion heute zutiefst ernüchtert ist. Aber über die Jahre hinweg hat diese ausbleibende emotionale Zuwendung dazu geführt, dass Ellion Dana keine Zuwendung mehr zeigen kann. Ellion erlebt Danas Verhalten, dieses Nicht-Reagieren und die
Verweigerung, sich emotional für die Beziehung zu engagieren, als Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit zu erleben, ist eine besondere Form der Verachtung und Herabwürdigung. Ellion ist so tief gekränkt und fühlt sich in seinem ganzen Dasein so wenig anerkannt und wahrgenommen, dass er die Gegenwart von Dana kaum noch aushält, zutiefst traurig ist und überlegt, die Ehe zu beenden.

Wir müssen die Situation jedoch zu Ende durchdeklinieren, sonst könnten wir uns von der tückischen Annahme verleiten lassen, dass Dana »die Schuldige« ist. Nein:

Eine verworrene und ins Ungleichgewicht geratene Paardynamik ist immer ein Zusammenspiel von zwei Seiten.

Mal ein bewusstes, mal ein unbewusstes. Auch Dana leidet. Wahrscheinlich ist ihr dies noch nicht mal bewusst. Danas Gleichgültigkeit ist vermutlich auch darin begründet, dass sie wenig Wertschätzung von Ellion erfahren hat. Irgendwann war der Druck, zu genügen, so hoch, dass Dana einen Schutzmechanismus brauchte. Vor allem, da ihre Bemühungen von Ellion nicht wahrgenommen wurden. Das Gefühl, nie gut genug zu sein, kann sehr schmerzhaft sein, sodass Dana sich irgendwann hinter Frust und Wut verkroch. Doch diese Gefühle erschöpfen auf Dauer. Also »hilft« Dana die Gleichgültigkeit und das Abspalten der Gefühle, um in der Paarspannung zu überleben.

In diesem Sinne füge ich dem Empathie-Plädoyer hinzu, dass Empathie mehr ist als die Zuwendung in bestimmten »Not-Momenten«. Vielmehr können wir Empathie in allen Paarbereichen durchbuchstabieren.

Dieser Text ist ein leicht abgeänderter Auszug aus Ira Schneiders Buch »Jeden Tag ein neues Ja«, welches im Juni 2024 bei SCM Hänssler erschienen ist.

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