Wie wir uns selbst mit toxischen Verhaltensweisen zerstören können
– von Sarah Schwarz
»Bist du dir sicher, dass du DAS Kleid anziehen möchtest?« Ich blicke an mir herunter. Bis gerade eben dachte ich noch, dass ich ganz gut aussehe. Mein Gegenüber schaut mich weiter kritisch an. »Ernsthaft, bist du dir sicher? Das ist schon ziemlich unvorteilhaft geschnitten.« Noch einmal schaue ich an mir herunter. Vielleicht hat mein Gegenüber ja Recht? Bislang zählte das Kleid zu meinen Lieblingen. Der kritische Blick meines Gegenübers breitet sich nun aber auch in mir aus. Und so seufze ich, kehre dem Spiegel den Rücken zu. Dann trage ich das Kleid, in dem ich mich bislang immer so wohl gefühlt habe, heute wohl nicht. Wieder einmal gewinnt meine innere Kritikerin.
Ähnliche Szenarien kennt wohl jede/r. Nicht umsonst heißt es, dass wir uns selbst die größten Kritiker sind. Das ist auch nicht nur schlecht und manchmal ist der eigene Rat auch wertvoll. Was aber, wenn die innere Kritikerin, der innere Kritiker immer lauter wird und kein gutes Haar mehr an uns lässt? Wenn es nicht bei der Kleiderfrage aufhört, sondern in andere Lebensbereiche eindringt?
Was, wenn unser Verhalten gegen uns selbst immer toxischer wird?
Das kann im Kleinen anfangen, aber sehr schnell unser ganzes Leben bestimmen.
Toxisches Verhalten sich selbst gegenüber – was ist das eigentlich? Das habe ich mal ChatGPT gefragt und folgende Antwort erhalten (aus dem Englischen übersetzt):
»Toxisches Verhalten gegenüber sich selbst, oft als selbstzerstörerisches oder schädliches Verhalten bezeichnet, umfasst Handlungen, Denkmuster oder emotionale Reaktionen, die sich negativ auf das geistige, emotionale, körperliche oder spirituelle Wohlbefinden einer Person auswirken. Diese Verhaltensweisen können sich in vielen Formen manifestieren.«
Als Beispiele folgten dann Dinge wie: negative Selbstgespräche, Perfektionismus, Selbstsabotage, Selbstvernachlässigung, Vergleichen mit anderen, Verleugnung von Emotionen, schädliche Bewältigungsmechanismen, Festhalten an vergangenen Traumata, keine Hilfe oder Unterstützung annehmen, Überanstrengung und Burnout, Mangel an Grenzen, …
Was macht eine Verhaltensweise toxisch?
Das klingt zunächst einmal alles sehr einleuchtend, dass es sich bei diesen Dingen um toxisches Verhalten gegen sich selbst handelt. Wie kommt es dann, dass vieles davon in gewissem Maße in der heutigen Gesellschaft als »normal« oder sogar »erwartbar« angesehen wird? Nehmen wir zum Beispiel das „Vergleichen mit anderen“: Bereits in der Schule wird Kindern durch Noten gezeigt, dass es »wichtig« ist, besser zu sein. Ein »Befriedigend« ist besser als ein »Ausreichend«. Und wenn du »Top of the Class« sein willst, dann tu mal lieber alles dafür, dass du das »Sehr gut« bekommst. Sobald eine Arbeit zurückgegeben wird, geht das Vergleichen los: »Und, was hast du?«
Klar, ein bisschen Wettkampf hat wahrscheinlich noch niemandem geschadet, schnell kann dieses Vergleichen aber auch gefährlich werden. Vor allem, wenn man anfängt, sich nicht mehr selbst zu genügen. Wir schauen immer, was der andere »hat« und fragen uns, warum wir XY noch nicht erreicht haben. Womöglich liegt es einfach daran, dass wir nicht hart genug arbeiten, es nicht genug wollen, oder sind wir vielleicht einfach zu dumm? Und schon geht die Abwärtsspirale los.
Das größte Problem an toxischem Verhalten sich selbst gegenüber ist eigentlich, dass man selbst nicht sofort merkt, dass es gar nicht so gesund ist, wie man gerade mit sich redet oder mit seinem Körper umgeht. Das machen ja schließlich alle. Und bis zu einem gewissen Grad sind alle Verhaltensweisen, die unser Verhältnis zu uns selbst zerstören können, »normal«. Aber wie sagte schon Paracelsus sinngemäß?
Die Dosis macht das Gift.
Es ist beispielsweise vollkommen okay, wenn man (oder frau) selbstständig sein möchte. Als der Blinker meines Autos die Tage ausgefallen ist, habe ich auch die Birne selbst ausgetauscht. Als er nach dem Tausch immer noch nicht funktionierte, habe ich dann aber doch meinen Papa angerufen und ihn gefragt, ob er eine Idee habe, woran es liegen könnte (ein korrodierter Kontakt und WD-40 waren die Lösung). Interessanterweise wäre ich wahrscheinlich vor ein paar Jahren in dem Moment noch völlig verzweifelt und hätte tagelang alleine versucht, eine Lösung zu finden, bevor ich auch nur auf die Idee gekommen wäre, um Hilfe zu bitten.
Damals war ich da auf einem sehr ungesunden Weg, habe jegliche Hilfe abgelehnt und versucht, alles allein zu schaffen – eine kaputte Blinkerbirne ist da noch das harmloseste Beispiel. Bis ich irgendwann gemerkt habe, dass es einfach nicht mehr geht, dass mich meine »Selbstständigkeit« wortwörtlich krank gemacht hat. Das zu akzeptieren war für mich nicht immer leicht und es ist auch noch immer ein weiter Weg (dieses Mal habe ich z. B. erst drei neue Birnen ausprobiert, bevor ich meinen Vater angerufen habe). Aber ich bin froh, dass ich rechtzeitig die Reißleine gezogen habe.
Rechtzeitig die Reißleine ziehen fällt vielen schwer, zumal wir nicht immer sofort merken, dass unser Verhalten ungesund ist. Und gerade das ist es, was dieses Verhalten toxisch macht:
Wie ein schleichendes Gift macht es uns nach und nach aus dem Inneren her krank und kaputt.
Wenn wir merken, dass etwas nicht stimmt, ist es oft schon zu spät, das Gift ist zur Gewohnheit geworden. Es ist ein Teil von uns und eigentlich möchten wir uns gar nicht mehr davon trennen. Denn wer bin ich, wenn ich nicht mehr bis zum Umfallen ackere? Wer bin ich, wenn ich nicht alles alleine schaffe und allen damit zeige, wie stark ich bin? Wer bin ich, wenn nicht alles perfekt läuft und die Fassade beginnt zu bröckeln? Und wer bin ich, wenn ich Vergangenes loslasse und einen leichten Schritt in Richtung neue Zukunft gehe?
Ich bin nicht, was mir negative Überzeugungen glauben machen wollen
Was ich gemerkt habe, seit ich mich mehr mit meinem eigenen Verhalten mir selbst gegenüber auseinandersetze: Negative Glaubenssätze, die wir teils bereits in unserer Kindheit verinnerlicht haben, spielen eine große Rolle. Diese tiefen, inneren Überzeugungen halten uns in unserem Leben oft auf schlechte Art einen Spiegel vor und scheinen unsere Defizite in den Vordergrund zu rücken, wo oftmals gar keine vorhanden sind. Durch direkte oder indirekte Botschaften können sich diese Glaubenssätze über den Verlauf unseres Lebens tief in uns verankern und uns vorgaukeln, dass wir eigentlich nichts können.
Im team-f Seminar »Freiheit erleben – Beziehungen klären« wird deswegen auch von »Lebenslügen« gesprochen, da sie uns den inneren Frieden und die Lebensfreude rauben können. Hier ist es wichtig, zu erkennen, woher diese Glaubenssätze stammen, was sie wirklich über uns aussagen und ob das überhaupt zutrifft. Das Selbstbild kann durch sie komplett verzerrt werden, weswegen es unerlässlich ist, sich ein neues, positives Selbstbild zu erarbeiten und sich immer wieder vor Augen zu führen, dass wir wertvoll sind – auch mit Defiziten. Denn diese können und dürfen unser Selbst und unsere Verhaltensweisen nicht negativ beeinflussen.
Viele toxische Verhaltensweisen können auf Dinge zurückgeführt werden, die wir als Kind gelernt haben. Manchmal sind sie auch Ergebnis eines Traumas. Doch das muss nicht immer sein. Häufig ist es auch »einfach nur« die Gesellschaft, die uns in bestimmte Muster reingedrückt hat.
Und Dinge, die man über viele Jahrzehnte »gelernt« hat, »verlernt« man nicht von heute auf morgen. Das erfordert viel Arbeit, lohnt sich aber!
Was kann helfen?
Auch wenn viele es wahrscheinlich nicht mehr hören können, weil es seit ein paar Jahren in aller Munde ist: Achtsamkeit ist hilfreich, um den eigenen Wert wieder (neu) erkennen zu können. Das klingt so simpel, ist aber wirklich schwer, ich spreche da aus Erfahrung. Doch ich habe gelernt, dass Zeiten der Achtsamkeit unendlich wichtig für mich sind, gerade um meiner inneren Kritikerin Einhalt zu gebieten. Und auch, um Grenzen zu setzen. Ich neige dazu, mir die Gedanken anderer zu machen und für alles Lösungen zu suchen, auch wenn das Problem nicht meins ist. Schnell mache ich es zu meinem. Auch das ist etwas, was ich in den letzten Jahren lernen musste: Ich habe Grenzen und es ist okay, sie anderen (und vor allem mir) gegenüber zu verteidigen. Und es ist okay, mir Zeit für mich zu nehmen. Mein Mantra nehme ich aktuell aus einer Songzeile von Metallica: »Excuse me, while I tend to how I feel.« (»Entschuldige mich, während ich mich darum kümmere, wie ich mich fühle.«)
Manchen helfen auch Techniken wie Meditation, um aus den Gedankenschleifen auszusteigen und die Beziehung zu sich selbst zu verbessern. Oder regelmäßige Spaziergänge im Wald. Oder auch Post-Its an strategischen Stellen in der Wohnung. An meinem Badezimmerspiegel beispielsweise hängt ein Zettel mit der Aufschrift:
»Glücklich steht dir gut.«
Das holt mich persönlich wirklich oft wieder auf gute Weise auf den Boden der Tatsachen und hilft mir, negative Gedankenmuster zu durchbrechen.
Wichtig ist aber auch: Nicht immer schafft man es aus einer toxischen Beziehung mit sich selbst alleine raus! Deswegen möchte ich auch unbedingt Mut machen, sich professionelle Hilfe zu suchen. In der kognitiven Verhaltenstherapie beispielsweise kann man lernen, negative Gedankenmuster zu identifizieren und diese zu verändern.
Woran erkenne ich toxisches Verhalten mir selbst gegenüber?
Das ist nicht immer so leicht und häufig braucht es den Anstoß von außen, um die eigenen Muster zu erkennen. Der Wille, etwas zu ändern, muss aber von einem selbst her kommen.
Hier beispielhaft ein paar Anzeichen, die auf ungesundes Verhalten dir selbst gegenüber hinweisen können:
Alles, was du machst, ist deinem inneren Kritiker nicht genug. Du bist nie hübsch genug, nie gut genug, nie reichen deine Anstrengungen. Wichtig: Es geht hier nicht um die Kritik von außen, sondern darum, wie du dich selbst siehst. Erlaube dir, auch mal nicht 100 Prozent zu geben und sei mit dem Ergebnis zufrieden, auch wenn es deiner Meinung nach perfekter sein könnte. Manchmal ist »gut« besser als »sehr gut«, wenn deine Energie danach noch für ein anderes Projekt reicht.
Du versuchst, die Probleme anderer vor deinen eigenen zu lösen. Denn wenn du anderen hilfst, selbst aber keine Hilfe in Anspruch nimmst, sehen dich die anderen als selbstständig und stark an. Du steigst in ihrer Wertschätzung. Was ist aber mit deiner eigenen Wertschätzung für dich selbst? Und was bringt es dir, dich für andere aufzuopfern, dich selbst aber zu ignorieren? Versuche, Hilfsangebote anderer anzunehmen und auch selbst mal um Hilfe zu bitten. Du wirst sehen, es lohnt sich und die meisten deiner Freunde/Familie werden sich freuen, dich unterstützen zu können.
Du ignorierst die Hilfeschreie deines Körpers. Schlafprobleme, starke Schmerzen, die keine körperlichen Ursache zu haben scheinen, Tinnitus, Konzentrationsprobleme, … All das können Anzeichen sein, dass dein Körper gerade nicht zur Ruhe kommt und dringend Entspannung braucht. Ignoriere diese Anzeichen nicht, sondern höre auf deinen Körper und tu dir etwas Gutes.
Du greifst zu schädlichen Bewältigungsmechanismen, um mit deinem Leben »klarzukommen«. Das können (legale wie illegale) Drogen sein, aber beispielsweise auch ein Übermaß an Sport oder Medienkonsum können dir ebenso schaden, wie Substanzen, die du deinem Körper zuführst. Es ist wichtig, dass du das richtige Maß erkennst, welches dir wirklich noch gut tut und das gesund ist (bei Drogen inkl. Alkohol ist Verzicht meist der einzige Weg). Wenn du merkst, dass du es alleine nicht aus dem Teufelskreis herausschaffst, suche dir unbedingt professionelle Hilfe.