– von Anja Schnake
Jeder von uns ist im Alltag herausgefordert abzuwägen, wie wir unsere Zeit-, Kraft- und Begabungsressourcen einbringen und wo wir ein »Stopp« setzen, um gesund zu bleiben und auch Zeiten zum Auftanken zu haben.
Menschen, die unser »Nein« ignorieren, uns manipulativ Schuldgefühle vermitteln und so bewirken, dass wir am Ende doch das tun, was sie wollen, sind die Personen, bei denen es uns besonders schwer fällt, standhaft zu uns zu stehen. Nachfolgend teile ich mit euch ein paar echte Beispiele. Um die betroffenen Personen zu schützen, habe ich die Beispiele verfremdet.
Nadine liebt ihre Familie und betreibt einen Laden. Es geht ihr gut, nur die Beziehung zu ihrer Mutter macht vieles kompliziert. Sie hat schon alles Mögliche versucht, ihrer Mutter respektvoll klarzumachen, dass sie auch eigene Pläne hat und nicht »springen« will, um sich an ihre Vorstellungen anzupassen. Einmal forderte ihre Mutter, dass Nadine ihr an einem bestimmten Tag im Garten helfen sollte, um diesen winterfest zu machen. Nadine hatte aber mit ihren Kindern zwei Termine und wollte eigentlich endlich ihre Fenster putzen. Das sagte sie ihrer Mutter, doch die beschimpfte sie, wie undankbar sie sei und dass sie nie Zeit für sie habe – Nadine sei so egoistisch! Also verschob Nadine ihre eigenen Termine und machte es möglich. Doch der Besuch war sehr kräftezehrend und ihre Mutter machte sie permanent klein und kritisierte sie. Die folgenden zwei Tage litt Nadine unter Migräne. Sie fragte ihre Freundin, was sie nur falsch machte. Sie fühlte sich klein und minderwertig.
Torsten leidet unter starken Magenbeschwerden. Jedes Mal, wenn er auf der Arbeit seinem Chef begegnet, krampft sich alles zusammen. Der Chef ist laut, dominant und schreit die Mitarbeitenden schnell an. Seine Meinung und Verhaltensweise sind für ihn die einzig richtigen, alle anderen sind zu dumm und zu langsam. Torsten ist ein detailgenauer Mensch, hat eine hohe Fachkompetenz und arbeitet gründlich. Bei den Kollegen ist er als sehr umgänglich beliebt. Der Chef fordert viele Überstunden, was Torsten in ein Dilemma bringt, weil ihm Zeit mit seiner Familie wichtig ist.
Kathrin arbeitet als Krankenschwester. Sie möchte mehr Selbstvertrauen entwickeln. Sie glaubt, sie sei zu langsam, zu schusselig und wertlos. Auch sagt sie von sich, dass sie sehr unordentlich sei und ihre Aufgaben nicht schaffe. Sie hat sehr große Selbstzweifel und Ängste. Ihre Freunde wundern sich über diese Selbstsicht. Denn Kathrin ist super organisiert, hat andere Menschen im Blick und kümmert sich liebevoll um sie. Die Freunde sehen das Problem eher darin, dass Kathrin sich von ihrem Ehemann wie eine »Fußmatte« behandeln lässt. Er ist tyrannisch, launisch und wird schnell wütend. Immer wieder sagt er ihr, dass sie ihn mit ihrer Langsamkeit oder Unordnung so aufrege. Sie sei schuld, dass er so schlechte Laune habe. Kathrin hat ihn bisher in Schutz genommen. Doch jetzt ist sie zu erschöpft und will endlich wieder Kraft und Selbstvertrauen gewinnen. Aus Angst, etwas falsch zu machen, kann sie schon nicht mehr richtig schlafen.
Alle drei sind erwachsene Personen, die ein Recht auf Würde, Respekt und ein Miteinander auf Augenhöhe haben. Jedoch knicken sie bei herausfordernden Personen ein, sind unsicher, verängstigt, zweifeln an sich selbst und würden sich am liebsten verstecken – sie sehnen sich danach, dass die anderen sie einfach nur lieb haben. Das ist eher ein kindliches Verhalten. Als Christen denken sie außerdem, sie müssten »Frieden um jeden Preis« halten und haben ein schlechtes Gewissen, weil ihnen das nicht gelingt.
Welche Schritte haben eine Veränderung bewirkt?
Nadine besuchte ein Seminar, in dem es um gesunde Beziehungen ging. Mit Erstaunen wurde ihr klar, dass sie als Erwachsene ein eigenes Leben hat und nur für ihre eigenen Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse verantwortlich ist und nicht für die ihrer Mutter oder anderer Personen. Sie erkannte, dass sie sich selbst die Erlaubnis geben muss, um zu sich und zu dem, was sie will und was sie nicht will, stehen zu können. Sie rief ihre Freundin Melanie an und erzählte von einer Übung im Seminar. Mit ihr wollte sie versuchen, das zu üben. Beide stellten sich gegenüber und Nadine sagte mutig:
»Ich bin nur für meine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse verantwortlich und du bist für deine verantwortlich.«
Zunächst wirkte Nadine sehr unklar, leise, vermied den Blickkontakt und ihre Körpersprache war nicht überzeugend. Melanie half ihr mit viel Humor, mehr zu schauspielern, bis es stimmiger wurde. Dann übernahm sie den Part der Mutter und Nadine formulierte klar, dass sie leider schon Termine habe und an dem Tag nicht kommen könne. Stattdessen könne sie an Tag X für zwei Stunden im Garten helfen.
Torsten hatte eine ähnliche Übungsidee in einem Buch gelesen und übte mit seiner Frau. Bei ihr fühlte er sich sicher und traute sich zu sagen:
»Ich bin okay und du bist okay!«
Ihm war bewusst geworden, dass sein Chef ihn an seinen Vater erinnerte und es half ihm, sich bewusst zu machen, dass er heute erwachsen und ein kompetenter Fachmann ist. Er erlaubte sich, seinen »Stand« einzunehmen und nicht in ein kindliches Denken zu rutschen.
Außerdem hatte er etwas über unterschiedliche Typen gelesen und verstand, dass sein Chef nur auf klare, kurze Ansagen reagierte und bei langen Erklärungen und Befindlichkeiten blockte. Bei der nächsten Konfrontation sagte Torsten: »Stopp, bitte bleiben Sie sachlich. Hier sind drei Fakten… Wir können verschiedene Lösungswege gehen. Aus meiner Sicht sparen Sie mit Methode XY Zeit und das ist gewinnbringender.« Der Chef war perplex und respektierte Torsten daraufhin viel mehr und nahm ihn als ebenbürtiges Gegenüber wahr.
Kathrin suchte sich professionelle Begleitung in einer Beratungsstelle, weil sie zuhause immer kränker und erschöpfter wurde. Ihre Freunde hatten sie sehr dazu ermutigt. In der Beratung lernte sie, zu sich und ihren Stärken und Begrenzungen »ja« zu sagen. Es erleichterte sie, zu erkennen, dass sie nicht komplett falsch ist. Mithilfe der GfK (Gewaltfreie Kommunikation) lernte sie, Gespräche mit ihrem Mann vorzubereiten und zu ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu stehen. Sie übte Worte und Sätze für Gespräche mit ihrem Mann und lernte neue Strategien kennen, wie sie sich vor seinen verbalen Entgleisungen schützen konnte. Sie erklärte ihrem Mann, dass sie sich nicht mehr respektlos behandeln lasse und den Raum verlassen werde, wenn er das nicht beachtete. Es dauerte eine Zeit, bis sie kein schlechtes Gewissen und Selbstzweifel mehr plagten und sie neue Kraft gewann.
»Was der andere tut, tut er für sich und nicht gegen mich!«
Dieser Satz von Marshall Rosenberg half ihr sehr, bei sich zu bleiben und zu verstehen, dass ihr Mann eigene Gründe hatte, wieso er sich so verhielt.
Wie kann es weitergehen?
In manchen Fällen ist eine räumliche Trennung und manchmal auch ein Kontaktabbruch zum eigenen Schutz wichtig, wenn die herausfordernde Person gar nicht oder »noch« nicht einsichtig ist.
Doch in diesen Beispielen sind alle drei an ihren »herausfordernden Mitmenschen« gewachsen, weil sie den Mut hatten, zu sich und ihrem Recht auf Würde und Selbstschutz zu stehen. Das hatte jeweils auch Auswirkungen auf ihr Gegenüber. In diesen Geschichten schafften die Beteiligten es, die Beziehungen zu erhalten, wenn auch mit klaren Grenzen und Spielregeln.
Nadine merkte, dass ihre Mutter sie auf Dauer nur respektiert, wenn Nadine ausschließlich kurze, geplante Zeiten mit ihr verbringt. Sie betrauert, dass sie nicht die gewünschte Anerkennung von der Mutter bekommen wird und gestaltet nun die Beziehung so gut es möglich ist. Ihre Migräne meldet sich immer seltener.
Torsten hat Selbstvertrauen gewonnen und den Mut, sich eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Dort fühlt er sich nun mit seiner Kompetenz und seiner ruhigen Art wertgeschätzt. Seine Magenbeschwerden treten seitdem nur noch bei viel Stress auf.
Kathrins Mann hat verstanden, dass seine starken Gefühle aus einem Mangel und Trauma in seiner Biografie kommen. Er hat sich selbst professionelle Beratung gesucht. Beide sind zuversichtlich, dass sie auf einem guten Weg sind.
Alle haben sich Unterstützung gesucht und eine neue Freiheit und Lebensqualität gewonnen. Wer es schafft, übergriffigen Menschen zu sagen, was er will und was nicht, gewinnt Respekt und Achtung vor sich selbst und häufig auch beim Anderen. Die Grenzsetzung soll dazu dienen, einen guten Rahmen zu schaffen, die Beziehungsform miteinander zu leben und zu gestalten, die eben möglich ist. Im Psalm 147,14 steht:
»Gott sagt: Ich will dir Frieden schenken innerhalb deiner Grenzen!«
Das wünsche ich dir von Herzen. Viel Segen beim Üben vom Grenzen setzen!
Zur Autorin: Anja Schnake arbeitet in der eigenen Beratungspraxis (www.lebensberatung-schnake.de). Sie ist Resilienztrainerin und bundesweit als Referentin unterwegs. Bei team-f unterstützt sie die Leitung in Sachsen und bietet verschiedene Seminare an. Sie erfreut sich an ihrer wachsenden Familie mit Kindern und Enkeln.