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Die toxischen Beziehungen meiner Kindheit

– Die Autorin (verheiratet und Mutter) ist der Redaktion bekannt.

Mir war lange nicht klar, was mich denn so schlimm belastet hatte und warum es mir so schlecht ging. Auf meiner Suche nach den Ursachen fand ich transgenerationale Traumata, die zu Traumata bei meinen Eltern geführt hatten. Wie diese sich auf meine Kindheit und mein heutiges Leben auswirken, davon erzähle ich euch ein wenig. Ich erlebe in meiner Geschichte eine starke Verflechtung meiner Erlebnisse. Ich möchte diese mit ihren Folgen klar benennen und Menschen ermutigen, dass Veränderung und Heilung, wenn auch in kleinen Schritten und über lange Jahre hinweg, möglich ist.

Die Beziehung zu meinem Vater
Mein Vater hat sein Kindheitstrauma und seinen Stress mit Alkohol kompensiert. So konnte er weitermachen, ohne aufzugeben. Leider hat das zu bekannten Folgen geführt, wie Wesensveränderung, Reizbarkeit, Aggressivität und Unberechenbarkeit. Ich hatte Angst vor meinem Vater, dem Donnerwetter, das jederzeit ausbrechen konnte. Ich wusste nie, wie er drauf ist und was passieren würde. Häufig gab es heftige Zerwürfnisse zwischen meinen Eltern. Er war nicht in der Lage, seinen Kindern das zu geben, was sie brauchten: Zuhören, Ermutigung, mich zu sehen, für mich da zu sein, eine gute Beziehung zu gestalten… Es gab Ausraster mit Zerstörung von Haushaltsgegenständen, verbaler Erniedrigung und danach tiefe depressive Reue. Aber ohne echte Veränderung. Ich habe immer gehofft, dass sich alles bessert und habe versucht, meinen Vater zu ermutigen. Doch es kam zusätzlich von ihm zu sexuellen Übergriffen mir als Tochter gegenüber.

Narzisstische Mutterbeziehung
Nach dem Tod meines Vaters bin ich über die Beziehung zu meiner Mutter gestolpert. Nun konnte sie nicht mehr den Vater als Prellbock nehmen, ihn schlecht machen oder mich »auf ihre Seite ziehen«. Mir wurde klar: Sie hatte mich manipuliert und benutzt. Ich musste mir eingestehen, dass ich in unserer Beziehung die »Retterin« war. Es drehte sich für mich alles darum, es ihr recht zu machen. Ich wagte auch nicht, vor ihr für meine Grenzen einzustehen. Mir fiel plötzlich auf, wie wenig ich eine Meinung neben ihrer haben durfte. Es war kaum möglich, Ansichten und Meinungen auszutauschen und diese stehen zu lassen. Außer, ich war ihrer Meinung. Ansonsten kam es recht schnell zu Drohungen, Beschimpfungen, Anschuldigungen oder gemeinem Streit. Ich erlebte mich als sehr verstrickt in einer für mich destruktiven Rolle: Ich bin für meine Mutter verantwortlich! Eine kranke Umkehrung dessen, was unsere Beziehung eigentlich einmal hätte sein sollen.

Was mir wirklich half, war Abstand. Ich merkte, dass ich bei jedem Kontakt den Boden unter den Füßen verlor, da ich stark getriggert wurde, sodass ich von alten Traumagefühlen überflutet wurde. Ich brach den Kontakt ab. Das bedeutet nicht, dass es leicht war. Es war und ist mit ziemlich heftigen Gefühlen verbunden. Ich hatte ein falsches(!) schlechtes Gewissen, dass ich für meine Mutter zu sorgen hätte und für ihr Glück verantwortlich sei. Das hat an mir genagt und einige Lebenskraft gekostet. Es hat sich aber sehr gelohnt, das auszuhalten.

Jetzt kehrt immer mehr echte Ruhe ein. Ein Frieden, den ich nicht kannte.

Toxische Gottesbeziehung
Hinzu kam eine freikirchliche Religiosität, die ich im familiären und gemeindlichen Umfeld als erdrückend und regelhaft, stark einengend und belastend erlebte. Je älter ich werde, desto toxischer erscheint mir die erlebte Art des Glaubens. Und auch mein Gottesglaube damals. Abgesehen von patriarchalen Strukturen, die Männern die Macht in der Gemeinde sicherte und Frauen aus Leitung heraushielt, gab es zahlreiche Regeln und Gesetze, die das Leben und das Tun und Lassen regelten. Als ich mich eines Tages innerlich von diesem Glauben und schrägen Gottesbild verabschiedete, hatte ich das Gefühl, bodenlos zu fallen – ohne Halt oder Netz. Das war für mich einer der schrecklichsten Zustände – für Wochen, wenn nicht sogar Monate. Weil ich feststellen musste, dass mir vermittelt wurde, ich könne und dürfe nicht selbst über mein Leben entscheiden. Eine Autorität, also einfach jemand Älteres aus dem Familien- oder Gemeinde-Umfeld, müsse mir immer sagen, was richtig oder falsch sei für mich. Jegliches Alltagsthema konnte »niedergebibelt« werden. Ich hatte nicht gelernt, selbst zu entscheiden und mein Leben frei zu gestalten.

Folgen vom Bindungstrauma
Das spezifisch »gemeine« an toxischen Beziehungen, die ein Kind erlebt, ist die Prägung dadurch. Wenn z. B. ein substanzabhängiger Vater ständig ausrastet und dies zu heftigsten Streits bei den Eltern führt oder die Kinder angebrüllt, bedroht und fertig gemacht werden, erlebt das Kind: Mein Zuhause ist ein gefährlicher Ort, hier ist es nicht sicher. Die Menschen die eigentlich für mich da sein sollten, sind noch nicht einmal in der Lage, für sich selbst da zu sein. Ich bin zu viel, eine Belastung, kompliziert – bin es nicht wert, dass ich gehört und gesehen werde. Ich bin ausgeliefert und im dauerhaften Stress und Überlebensmodus. Das zerstört die Basis für ein gesundes Aufwachsen und Lernen. Die Beziehung zu den wichtigsten Bindungspersonen ist dann unsicher und mit Zerstörung verbunden.

Wenn das in der Beziehung nicht korrigiert wird und das Kind nichts anderes lernt, kann dies ein Trauma werden, ein Bindungstrauma. Es wirkt sich auf alle anderen Beziehungen aus. Betroffene können schwer vertrauen, loslassen, Gutes erwarten. Sie leben mit einem ständig übererregten Nervensystem und in dauerndem Stress. Ihr Stresstoleranzfenster ist sehr klein. Ich erlebe das auch, komme sehr schnell an meine Kraftgrenzen, fühle mich schnell außerordentlich gestresst und kann schwer genießen und entspannen.

Folgen von Sucht und Co-Abhängigkeit
Kinder in Suchtfamilien haben mit Folgen zu kämpfen wie einer tiefen Unsicherheit über ihren Wert, ihre Person, ihre Stärken, was ihnen Spaß macht und was sie gut können. Sie sind dauerhaft damit beschäftigt, ihre Beziehungen auszuloten und sind in diesen verunsichert. Sie können sich gut als »People Pleaser« anpassen und sind darauf getrimmt, sämtliche feinste Stimmungen aufzunehmen und vieles persönlich zu nehmen. Sie wollen es anderen recht machen und ständig hören, dass sie in Ordnung sind. Konflikten gehen sie eher aus dem Weg, da sie es kaum aushalten können, wenn der Andere dann nicht gut auf sie zu sprechen ist. Ich nahm diese Neigung zur co-abhängigen Beziehungsgestaltung stark bei mir wahr.

Folgen von Parentifizierung
Bei Eltern, die so tief in ihren Themen stecken und keine Erleichterung oder Heilung finden, kann ein Kind parentifiziert werden. Ich habe das so erlebt, dass ein Elternteil, die Mutter, sich so auf mich gestützt hat, dass ich in Teilen die Mutterrolle eingenommen habe. Das ist ein schwerwiegender Rollentausch, bei dem das Kind seine Kindheit verliert. Ihr oder ihm wird die Last der Verantwortung für einen oder beide Elternteile auferlegt. Das kann ein Kind nicht tragen. Ich fühle mich noch heute ständig von kleinsten, gesunden Herausforderungen oder dem Thema Elternschaft übermäßig überfordert. Das saugt alle Lebenskraft aus einem Tag. Es lähmt, nimmt einem die Kreativität und die Überzeugung, etwas schaffen zu können.

Folgen von sexueller Gewalt
Sexuelle Gewalt löst bei den Opfern oft Scham und Schuldgefühl aus; besonders wenn man Jahre braucht, um darüber zu sprechen, kann dies eine zerstörerische Dynamik in einem haben. Ich habe mich selbst lange sehr wertlos, hoffnungslos und absolut minderwertig erlebt. Was natürlich jegliche Beziehungen von mir zu anderen Menschen kompliziert macht. Ich habe sexuelle Gewalt als zutiefst verunsichernd in meiner Persönlichkeit erlebt. Mein Wert und meine Würde müssen erst wieder hergestellt werden. Alles, was meine sexuelle Identität angeht, ist dadurch stark belastet und kann nicht frei gelebt werden. Männern gegenüber immer im Schutzmechanismus zu sein, machte meinen Wunsch nach gesunder Partnerschaft und sogar Familie fast unerreichbar. Wie lange habe ich mich gewundert, dass ich keinen Partner fand, bis mir klar wurde, ich habe mich immer unbewusst(!) bedeckt gehalten und war unnahbar oder abweisend. Es war einfacher, Single zu sein, als mich einer »potentiell zerstörerischen Beziehung« mit einem Mann zu stellen.

Was ist heilsam?
Heilsam sind die vielen Beziehungen, in denen ich von Seelsorgern, Beratern und Therapeuten unterstützt wurde, um Klarheit über meine Geschichte zu bekommen. Beziehungen, in denen mein Wert und meine Würde hergestellt werden. Beziehungen, in denen ich lerne, mich zu fühlen, zu spüren und Verantwortung für meine Bedürfnisse und mein Leben zu übernehmen. Beziehungen, in denen ich konkrete Übungen für den Umgang mit Gefühlen, Triggern, Stress und die Regulation des Nervensystems lerne und übe. Beziehungen, die ich als zuverlässig und beständig erlebe – mit Menschen, die mich nicht klein halten, ausnutzen, unterdrücken oder missbrauchen. Heilsam ist die Begegnung mit Jesus, auf einer persönlichen Ebene. Das erlebe ich heute als so tief berührend. Ich kann Religiosität hinter mir lassen und das Wesentliche leben: die Beziehung mit Jesus.

Ich bin ein Mensch, der sich seinen inneren Prozessen stellt, viel fachliche Hilfe in Anspruch nimmt und seine Hausaufgaben macht. Ich empfehle das jedem Menschen. Aktuell nehme ich eine Traumaberatung und Traumasensibles Coaching in Anspruch. Hierdurch lerne ich sehr zentrale Dinge wie Nervensystem-Regulation oder Innere-Anteile-Arbeit. Aber eines der schönsten Dinge ist:

All die starken, überwältigenden Gefühlszustände aus der Kindheit sind da, um endlich da sein zu dürfen, um integriert werden zu können.

Ich lerne, diese Gefühle nicht mehr weg zu drücken oder weg zu beten, sondern sie endlich zu fühlen. Ich lerne, Sicherheit im Hier und Jetzt zu erfahren. Es kommt immer mehr Heilung und Ruhe in mich. Je mehr das gelingt, desto leichter wird es mir innerlich und desto gelingender erlebe ich alle Beziehungen.

Manchmal möchte ich trotzdem aufgeben, obwohl ich so viel Weg gegangen bin und viel Gutes geworden ist. Wenn es mir zu viel wird, wenn wieder einmal starke Ängste, tiefe Trauer oder Wut hochkommen. Oder wenn ich wieder merke, wie sehr ich mir selbst mit alten Überzeugungen von traumatisierten Anteilen im Wege stehe. Ich habe den Wunsch, dass noch mehr Frieden und Freude einkehren. Ich möchte innerlich noch an den Punkt kommen, an dem ich das Leben leichter nehmen kann und endlich meine Themen ins Leben bringen und ausleben kann.

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