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Leuchttürme im Nebel der Manipulation

Menschen in toxischen Beziehungen beistehen

– von Saraj Stutz

Susanna saß mir beim Kennenlerngespräch schräg gegenüber. Sie hatte entschieden, sich von ihrem Mann zu trennen. Nicht leichtfertig, nein, sie war in Therapie gegangen, ihr Mann auch. Selbst eine Paartherapie hatten sie versucht. Als Susanna dort erzählte, dass ihr Mann sich über ihr Nein hinwegsetze und sie für Sex benutze, obwohl sie nicht wollte, mahnte der Eheberater zur Vorsicht gegenüber solchen Anschuldigungen, statt sich die Hergänge erklären zu lassen und hinzuhören, was da abgeht!1 Als Susanna entschied, sich scheiden zu lassen, zog sich ihre engste Freundin von ihr zurück, mit der Aussage, sich »das gute Bild von ihnen« bewahren zu wollen. Susanna fühlte sich ohnmächtig und vollkommen alleine gelassen.

Ich hörte ihr aufmerksam zu. Atmete mit ihr, bis sie wieder Worte fand, um zu beschreiben, wie sie in ihrer Ehe manipuliert, vertröstet, belogen und unter Druck gesetzt wurde – alles unter dem Deckmantel »Liebesbeziehung«. Wie gerne würde ich behaupten: »Das ist ein Einzelfall.« Wie gerne möchte ich glauben, dass Freunde und Freundinnen, Bekannte, Kleingruppen- oder Gemeindemitglieder, Leiter und Leiterinnen mitfühlend zuhören. Doch die Realität zeigt, dass das viel zu oft nicht geschieht.

Tatsache ist, dass Betroffene von psychischem, körperlichem und sexuellem Missbrauch im Durchschnitt erst nach dem achten Anlauf Gehör finden.

Viele geben vorher auf und verstummen. Obwohl Susanna für die Familie, Patentanten und -onkeln, Freunde und Gemeindemitglieder stets da war, wenn diese sie brauchten, hatte niemand hören wollen, was sich schon lange in ihrer Ehe abspielte. Denn angefangen hatte es nicht mit sexuellem Missbrauch, sondern schleichend, mit Unzuverlässigkeiten, kleinen Lügen, falschen Beschuldigungen und den Ahnungslosen spielen, wenn Susanna ihren Mann auf sein unmögliches Verhalten ansprach.

Wie können wir Menschen in toxischen Beziehungen beistehen und helfen?

  • Informieren: Informiere dich fundiert über die Abläufe in toxischen Beziehungen! Es ist erschreckend leicht, zum Handlanger von Manipulatoren zu werden, wenn man sich nicht mit manipulativen Verhaltensweisen auseinandersetzt. (Im Jargon rund um narzisstischen Missbrauch werden Menschen, die als verlängerter Arm von Manipulierern agieren, »Flying Monkeys« genannt.)
  • Ins Gespräch kommen: Versuche, mit der Person ins Gespräch zu kommen, auch wenn deine ersten Versuche vom Gegenüber abgeblockt oder mit Plattitüden überspielt werden. Frage nach, wenn in den Worten des Gegenübers etwas Schräges, Ungreifbares, ja vielleicht Bedrohliches mitschwingt. Höre zu. Bleibe ruhig und atme für dich und dein Gegenüber tief ein und aus. Lass dich von deinem Gegenüber und dem Versuch, die richtigen Worte zu finden, berühren. Nimm die zögerlichen Blicke wahr, denn möglicherweise ist es das erste Mal, dass jemand wirklich hinhört. Frage, ob du die Person wieder fragen darfst, wie es ihr geht, und wenn sie einwilligt, dann tu es!
  • Nachfragen: Viele argumentieren, dass sie nicht wissen können, wer die Wahrheit sagt. Gerade in toxischen Beziehungen und bei narzisstischem Missbrauch hört man komplett unterschiedliche Erzählungen. Das nennt sich Verleumdungsaktionen und Lügengeschichten und ist eine beliebte Taktik von Manipulierern. Stark manipulative Personen werden immer das Gegenüber als Täter oder als psychisch krank darstellen. Darum: Frage nach, um ein ganzheitliches Bild der Situation zu erhalten. Lass dich nicht verwirren. Das bedeutet auch, dass du die Lücken in den Erzählungen nicht selbst füllst, indem du dir deinen eigenen Teil denkst. Frage nach, bis du verstehst, was dein Gegenüber meint. Sag, was du noch nicht verstehst oder wo du noch nicht durchblickst. Aber bitte mit einer Herzenshaltung des Verstehen-Wollens und nicht, um die Person wegen Ungereimtheiten in der Chronologie des Erzählens an den Pranger zu stellen! Frage ruhig nach, bis du verstehst, wie sich die Dinge zugetragen haben. So hilfst du auch Betroffenen, die vertrackte Situation zu reflektieren. Vergessen wir nicht: Es ist nicht unsere Aufgabe, als Richter oder Richterinnen aufzutreten, sondern ein berührbares Gegenüber zu sein. Genau darum sollten wir aufmerksam zuhören, selbst wenn wir ganz andere Erfahrungen mit der manipulativen Personen (dem Partner, den Eltern, etc. von Betroffenen) gemacht haben.

Wie können wir zwischen der Realität und Verleumdungsaktionen bzw. Lügengeschichten unterscheiden?
Stark manipulative Menschen oder Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, erkennt man an ihren ständigen Ablenkungsmanövern und ihrem Zwang, zu vertuschen. Manipulatoren, ob weiblich oder männlich, bagatellisieren und rationalisieren, was vorgefallen ist. Ständig lenken sie Gespräche in eine andere Richtung und beschuldigen die Umstände und andere Personen. Manipulative Gesprächsführung erkennt man daran, dass man keine brauchbaren Antworten auf direkte Fragen bekommt. Stattdessen stellen Manipulierer die Loyalität ihres Gegenübers sukzessive in Frage und inszenieren sich alsbald als Opfer. Gibt man sich mit den fadenscheinigen Ausflüchten nicht zufrieden, wird man entweder offen oder verdeckt mit Schuldgefühlen belastet oder zum Sündenbock gemacht – mit dem Ziel, dass man sich entschuldigt und in Zukunft die manipulative Person nicht mehr in Frage stellen wird.

Wie können wir Menschen, die noch in Beziehungen mit Manipulatoren gefangen sind, dennoch unterstützen?

  • Ich plädiere dafür, direkt zu fragen: »Was wünschst du dir? Wie kann ich dich unterstützen?« Vielleicht hat die betroffene Person noch keine Ahnung, was sie sich wünscht oder was ihr helfen könnte. Oft ist die Versuchung dann groß, in heillosen Aktionismus zu verfallen und der betroffenen Person möglichst viel abzunehmen, im Glauben es der Person möglich zu machen, aus der toxischen Beziehung auszusteigen. Doch ein solches Vorgehen ist nicht ratsam und birgt die Gefahr, dass aus der ursprünglich unterstützenden Beziehung eine Abhängigkeitsverstrickung resultiert.
  • Dennoch: Mache Vorschläge, was du anbieten kannst, denn konkrete Hilfe ist während und nach dem Ausstieg aus toxischen Beziehungen von unschätzbarem Wert!
  • Werde aber erst dann aktiv, wenn die betroffene Person auf den Vorschlag eingeht und du merkst, dass es tatsächlich in die richtige Richtung geht. Ansonsten läuft man Gefahr, zur Spielfigur im manipulativen System zu werden. Hilfe zur Selbsthilfe ist die einzige Hilfe, die mittel- und längerfristig etwas zum Guten verändern wird.
  • Praktische Hilfe: die Kinder hüten; die Kinder beim toxischen Partner bzw. Partnerin anstelle der Betroffenen abholen bzw. bringen; eventuell Telefonnummern für Opferhilfe, juristische oder finanzielle Beratung heraussuchen; die Finanzen sortieren helfen; darin unterstützen, benötigte Dokumente zusammenzutragen; bei Wohnungs- oder Arbeitssuche helfen; in gravierenden Fällen eine Übergangswohnlösung schaffen und/oder finanzielle Unterstützung organisieren.
  • Gravierende Fälle sind Beziehungen, in denen körperliche, sexuelle und/oder zum Suizid treibende psychische Gewalt stattfindet. In solchen Fällen kann es entscheidend sein, dass jemand die Terminvereinbarungen mit der Opferhilfe übernimmt und begleitet. Dennoch, aller Hilfe zum Trotz, werden Betroffene Stück für Stück die Angstbarriere überwinden und lernen müssen, über das zu sprechen, was ihnen widerfährt. Und Helfer müssen darauf achten, dass sie nicht schnellere Schritte von Betroffenen verlangen, als diese fähig sind, zum jeweiligen Zeitpunkt zu gehen.

Darum: Bleib dran und hilf der betroffenen Person mit der Frage:

»Was wirst du tun?«

Frage die Person, bis wann sie den konkreten Schritt umsetzen will. Mache ein Zeitfenster aus und hilf, die Zwischenschritte herauszuarbeiten. Denn von Menschen, die wirklich eine Verbesserung wünschen, wirst du Antworten auf diese Fragen erhalten. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber bald. Denn wenn Betroffene merken, dass sie ernstgenommen werden und dir ihr Leid nicht egal ist, dann wirst du zum Leuchtturm, der die notwendige Orientierung schafft, anhand derer Menschen den Weg aus toxischen Beziehungen anpacken und schaffen können.

Susanna hat sich getrennt, die Scheidung, trotz mühsamer Eskapaden seitens des Ehemannes durchgestanden und ist mit den Kindern in eine neue Wohnung gezogen. Sie stand vieles alleine durch, beim Umzug hatte sie Hilfe aus ihrem Umfeld. Sie freut sich an ihrem neuen Zuhause, in dem keine alten Erinnerungen an den Wänden haften. Sie kommt in Beratung, um von den Strapazen der letzten zehn Jahre zu genesen und daraus zu lernen. Sie geht ihren Weg, als Mama, als geschiedene Frau von einem narzisstischen Expartner mit geteiltem Sorgerecht, was eine große Herausforderung bleibt. Aber es gibt in ihrem Leben wieder Platz für sie selbst, ihre Gedanken und Gefühle. Sie kann wieder sie selbst sein. Das beeindruckt mich.

Zur Autorin: Saraj Stutz (Jahrgang 1983), verheiratet und Mutter von einem Sohn, ist eine christlich-psychologische Beraterin, erfahren in der Behand-lung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Einen besonderen Schwerpunkt legt sie auf eine körperzentrierte, gestalterische Therapieform. Sie lebt und praktiziert im Raum Thun, Schweiz. Weiter Infos: https://sarajstutz.ch/

  1. § 177 StGB, Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland seit Juli 1997 strafbar. ↩︎
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