Aufwachsen mit Geschwistern – Prägung und Lebensschule
von Heidi Goseberg
Beste Freunde, Rivalen im Kampf um die elterliche Aufmerksamkeit, Verbündete, Kampfpartner, Spielkameraden, Geheimnisträger und vieles mehr zeichnet Geschwisterbeziehungen aus. Die Familie ist der Austragungsort für ein breites Spektrum von Beziehungserfahrungen.
Lange hat man den Eltern-Kind-Beziehungen die größte Bedeutung zugemessen und die empirische Geschwisterforschung in Deutschland ist erst etwa 30 Jahre alt. Heute weiß man, dass der Einfluss von Geschwistern auf die Entwicklung eines Menschen ebenso bedeutend ist, wie der der Eltern.
Für die meisten Menschen sind die Geschwisterbeziehungen die intensivsten und am längsten andauernden Beziehungen, mehr als die zu den Eltern, Partnern oder eigenen Kindern. Ihr Einfluss ist ein wesentlicher Teil unserer Identität, ob man sich nun gut versteht oder nicht, und dieser Einfluss reicht weit in die Erwachsenenbeziehungen.
Geschwister haben wir uns nicht ausgesucht.
Man kann sich nicht »scheiden« und selbst, wenn die Beziehungen abgebrochen sind, bleiben alle Teil der Familie. Aus dieser natürlichen Bindung kommt man nicht heraus.
Geliebt und gehasst, Solidarität und Neid, Verbundenheit und Zerstrittenheit – diese Ambivalenzen charakterisieren vor allem Geschwisterbeziehungen. Alle Eltern haben den innigen Wunsch, dass ihre Kinder sich gut verstehen und sind je nachdem genervt und betroffen über Sticheleien, Eifersucht, den ewigen, oft heftigen Streit und die meist fruchtlosen Versuche, zu klären. Am Ende dann oft noch die Konstellation alle gegen die Eltern. Mittendrin kann man sich kaum vorstellen, dass zwischen Kampfpartnern der Kindheit einmal echte und tiefe Freundschaften wachsen.
Einerseits ist das alltägliche Leben in der Familie die Lebens- und Charakterschule für Kinder. Sie lernen nicht nur durch das Vorbild der Eltern, ihre Belehrung, durch Verhaltens- und Benimmregeln in der Familie, sondern vor allem aus den gemeinsamen Erfahrungen, die vielfach tiefe Eindrücke hinterlassen. Auch darum, weil in einer Familie alles vorkommen darf, was in anderen Beziehungen möglicherweise zu Brüchen führt. In der Familie erlebt man neben vielen schönen und emotionalen Gemeinschaftserfahrungen auch Rivalitäten, Eifersucht, Auseinandersetzungen, Streit, doch ebenso auch Vergebung und Versöhnung. So sehr man das lieber nicht haben will, lernen wir alle daraus ganz viel: Argumente austauschen, die Meinung vertreten, Konflikte zunehmend fair austragen, sich entschuldigen und versöhnen. In einem engen Zusammenleben gehört, das dazu und Vermeidungsstrategien sind, darum nicht die Lösung.
Man kann sich trauen, Kämpfe und Streit auszutragen, gerade, weil man sich liebt und weil jeder bleibt.
Auch wenn Eltern betroffen sind von Bemerkungen wie »der ist nicht mehr mein Freund« oder »nein, ich liebe meine Schwester nicht!«, spüren wir doch oft auch den Zusammenhalt und die Anziehung.
Zum anderen ist es nicht selbstverständlich, dass aus Geschwistern ein Team wird und Aufgabe der Eltern, ihre Kinder dazu anzuleiten. Keine leichte, aber auch eine schöne Aufgabe. Natürlich spielen mit zunehmendem Alter die Kinder auch immer ihre Rolle dabei und jedes trifft auch seine eigenen Entscheidungen. Doch können Eltern einiges tun, um gute Geschwisterbeziehungen entstehen zu lassen. Gute Familienregeln sind dazu Anstöße, die im Alltag präsent bleiben, wenn sie immer mal wieder aufgegriffen werden, wie z. B.:
– Wir halten zusammen – egal was passiert.
– In dieser Familie haben wir uns alle lieb.
– Wir wollen uns gegenseitig unterstützen.
– Beim Streiten müssen wir nicht laut, beleidigend oder handgreiflich werden.
– Nach einem Streit vertragen und versöhnen wir uns ausdrücklich.
– Aber auch: Wir lachen viel miteinander und erleben viel gemeinsam.
Gut ist, wenn jede Familie ihren eigenen Verhaltenskatalog entwirft, denn das macht eine Gemeinschaft zu einer besonderen. Möglichst drückt dieser aus, was wir wollen, nicht was wir nicht wollen. Außerdem trifft man gute Absprachen nicht im Konfliktfall, sondern plant entspannte Familiengespräche dazu unter dem Thema: »Was für eine Familie möchten wir sein?«
In allem sollten Eltern ihren Kindern mit gutem Beispiel vorangehen.
Denn: Wie man in den Wald hineinruft …
Dass gute Regeln nicht immer beachtet werden und darum immer wieder aufgegriffen werden müssen, ist eine allgemeine Erfahrung zum Leidwesen aller Eltern. »Wie oft muss ich das denn noch sagen?« Wie oft hast du das schon gesagt? Gespräche dazu zu initiieren, ist nicht immer leicht, doch Kinder, die mitreden dürfen, die verstehen, dass jeder einen Beitrag leisten kann und die die Erfahrung machen, dass mit den Regeln der Alltag zunehmend entspannter und das Klima deutlich besser wird, lassen sich gerne darauf ein.
Und im Streitfall?
In unverfänglichen Situationen können Eltern sich zurücklehnen und den Kindern vertrauen, dass sie sich gegenseitig an die Regeln erinnern oder zu ihnen kommen, wenn sie es nicht allein schaffen. Wichtig ist dennoch, dass Eltern ansprechbar sind, die Kids begleiten, dabei jedoch neutral bleiben, immer wieder erklären, wie sie den Konflikt allein beilegen können und ermutigen: Ihr schafft das auch allein!
Wenn die Regeln grob verletzt werden, ist es immer ein guter Rat, Ruhe zu bewahren. Wer sich aufregt, mitschimpft oder gar lospoltert, begibt sich mitten in den Streit und verschafft sich kaum Respekt. Das ist – ehrlich gesagt – die schwierigste Übung. Ruhig und sachlich sollte man auf die Regeln hinweisen: »So möchten wir in unserer Familie nicht miteinander reden, Gefühle darf man ausdrücken, doch prügeln wir nicht aufeinander ein.«
Notfalls werden die Streithähne getrennt und man greift eine Situation nachher in Ruhe noch einmal auf, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Am Streit sind fast immer beide Seiten beteiligt und alle Recherchen, wer mehr Recht oder Unrecht hat, sind müßig.
Gespräche darüber, was im Streit unfair war und wie wir es in Zukunft anders machen können, führen eher zur Klärung. Dazu gehört am Schluss immer auch die Weisung, sich wieder zu vertragen. Dazu müssen alle jedoch erst einmal wieder herunterkommen, eine erzwungene Entschuldigung hat keinen so großen Wert.
Alles ist Übung, es kostet Nerven und viel Zeit. Gutes Konfliktverhalten lernen viele Menschen gar nicht und es wird nicht in wenigen Monaten gelernt, sondern ist ein jahrelanges Training. Doch Eltern, die sich da investieren, werden erleben, dass man mit der Zeit zunehmend die guten Früchte sehen kann
Die beste Zutat für eine schöne Gemeinschaft sind schöne gemeinsame Erfahrungen.
Sie sorgen dafür, dass ein WIR-Gefühl wächst, Zusammenhalt entsteht und jeder sich in diesem Zuhause zugehörig und geborgen fühlen kann. Das wachsen zu lassen erfordert beständige Aufmerksamkeit und Planung. Vor allem Rituale können dafür sorgen, dass schöne Gemeinschaftserfahrungen regelmäßig stattfinden, zu denen die Kinder mit Ideen und Wünschen gerne beitragen können, z. B.:
– das morgendliche gemeinsame Gebet vor dem Auseinandergehen,
– regelmäßige Spiel- und Spaßzeiten, Ausflüge, Familienurlaube
– ein wöchentlicher Familienabend,
– auch ein gemeinsames soziales Projekt u. v. m.
Wichtig ist, Ereignisse für jede Altersgruppe zu planen und dass die Großen auch bei den Kleinen mitmachen und umgekehrt, soweit möglich. Sich miteinander freuen ist ebenso wichtig wie die Elternzeit mit einem Kind allein.
Ziel ist, dass in einer Familie nicht die Konflikte überwiegen, sondern die guten Zeiten und dass nach der Familienzeit jeder sagen kann, dass man vor allem viele gute Erfahrungen mitgenommen hat. Erfahrungen, die unsere Seele berühren, die unauslöschlich abgespeichert sind und die Familienbande weit über die Familienzeit hinaus positiv prägen. Im Rückblick nach der Familienzeit können wir sagen, dass wir viele solcher Erinnerungsschätze in uns tragen. Die guten Beziehungen zu unseren vier Kindern und ihren Familien sowie der Geschwister untereinander empfinden wir vor allem als ein großes Geschenk, an dem wir uns freuen.