– von Ulrike Jansen
»Ich bin im Stress!« Wer hat diesen Satz nicht schon gehört oder selbst ausgesprochen? Das Phänomen »Stress« begegnet uns in unserer heutigen Gesellschaft überall: Hohe Arbeitsbelastung, ständige Erreichbarkeit, finanzielle Sorgen, einschneidende Lebensereignisse, Beziehungsprobleme bis hin zur besorgniserregenden Weltlage fordern uns heraus und können uns an den Rand der Überforderung bringen.
Was im Körper passiert
Stress ist eine normale Reaktion des Körpers auf eine tatsächliche oder empfundene Belastung, Bedrohung oder Gefahr. Gibt es einen Stressauslöser, der uns begegnet, wird dies vom Hypothalamus, der zentralen Schaltstelle im Gehirn für die Ausschüttung von Hormonen, registriert. Der Hypothalamus signalisiert dem Körper, dass er sich auf Belastung einstellen soll. Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol werden freigesetzt, Blutdruck und Blutzuckerspiegel steigen, der Herzschlag erhöht sich. Die Bronchien weiten sich, um mehr Sauerstoff aufnehmen zu können.
Im Stress ist unser Alarmsystem im Gehirn, die Amygdala, aktiviert, der Körper ist bereit zu Flucht oder Kampf, wir haben eine erhöhte Wahrnehmung für Bedrohung und Gefahr. Bei intensiver, langanhaltender und wiederholt hoher Stressbelastung wird beständig Kortisol ausgeschüttet, es kommt zu einem Kortisol-Überschuss im Körper, der krank machen kann.
Der Mensch verlässt den Bereich, in dem er das Gefühl hat, seine Herausforderungen bewältigen zu können und kann in einen Zustand der Übererregung oder Untererregung geraten. Dies kann mit der Zeit zu Erschöpfung und verschiedenen körperlichen und psychischen Problemen führen.
Unterschiedliche Arten von Stress
Stress ist nicht grundsätzlich schädlich, es gibt zwei verschiedene Arten von Stress, die sich unterschiedlich auswirken:
1. positiver Stress – Eustress
Dieser Stress wirkt wie ein innerer Antrieb, verleiht Energie und hilft, Ziele zu erreichen. Eustress tritt zum Beispiel vor einem besonders aufregenden Ereignis auf, z. B. einer Hochzeit oder Geburt.
Aber auch diese Art von Stress ist nur bis zu einem gewissen Punkt gesund. Wenn die empfundene Herausforderung und Belastung so ansteigt, dass sie die individuellen körperlichen und mentalen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt, kann die Situation kippen.
2. negativer Stress – Distress
Bei Distress geht es um langanhaltenden, wiederkehrenden Stress der entsteht, wenn Belastungen als überfordernd oder bedrohlich wahrgenommen werden. Sorgen, Ängste, scheinbar ausweglose Lebenssituationen, finanzielle Probleme, ständiger Leistungsdruck, einschneidende Lebensereignisse und vieles mehr können zu chronischem Stress führen, der physische und psychische Folgen haben kann. Unruhe, ständige Anspannung, ein Gefühl der Überforderung, Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit können auftreten, es kommt nicht mehr zu Entlastung und Entspannungsphasen. Chronischer Stress schwächt das Immunsystem. Die Anfälligkeit für Herz-Kreislauferkrankungen nimmt zu, es kommt zu Verspannungen, verminderter Leistungsfähigkeit, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden.
Welche Stressauslöser gibt es?
Was ein Mensch als Stress erlebt und wie er damit umgeht, hängt von verschiedenen individuellen Faktoren ab:
- die persönliche Lebensgeschichte: Was hat ein Mensch erlebt und welche Erfahrungen und Prägungen sind daraus entstanden?
- Bindungserfahrungen: Gab es sichere, verlässliche Bindungspersonen, die in schwierigen Situationen hilfreich und unterstützend an der Seite standen?
- mangelnde Selbstwirksamkeit: Ich habe kein oder wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten und bin nicht
sicher, schwierige und herausfordernde Situationen meistern zu können. - Gibt es einschneidende Ereignisse im Leben, die zu langanhaltendem chronischen Stress geführt haben?
- fehlende Ressourcen: Ich kenne meine persönlichen Ressourcen nicht oder kaum und kann sie im Alltag nicht einsetzen.
- Ich investiere wenig Zeit in Beziehungen, die mir gut tun.
- Gefühle: Gab es Anleitung und Unterstützung, mit Gefühlen umzugehen und Stress zu regulieren? Konkret:
- Was kann ich tun, wenn ich wütend bin?
- Darf ich überhaupt wütend sein?
- Geht dieser Zustand wieder vorbei, und was hilft mir, auf eine gute Art damit umzugehen?
Wenn Menschen zu mir in die Beratung kommen, stelle ich häufig fest, dass es ihnen schwerfällt, sich selbst wahrzunehmen. Sie spüren nicht, wie es ihnen geht, wissen nicht, was bei ihnen Stress auslöst, warum das so ist und wie sie damit umgehen könnten. Viele merken erst, dass etwas nicht stimmt, wenn sie entweder explodieren oder vor Erschöpfung nichts mehr tun können.
Die gute Nachricht ist, dass Stressregulation erlernbar ist.
Auch im Erwachsenenalter ist es möglich, hilfreiche Tools im Umgang mit Stress zu entwickeln. Diese helfen dabei, aus Über- oder Untererregung wieder in einen ausgeglichenen Zustand zu kommen und können das individuelle Stress-Toleranz-Fenster durch neu erworbene Bewältigungsstrategien langfristig erweitern.
Dazu ist es erforderlich, die individuellen Auslöser, die eigenen Reaktionen und die persönlichen Hintergründe kennenzulernen, in Zusammenhang zu bringen, zu verstehen und dann anzuwenden. Diese Auslöser können individuell völlig unterschiedlich sein, je nach Wahrnehmung und Bewertung der Person.
Habe ich beispielsweise als Kind erlebt, dass ich von einem Hund gebissen wurde, kann es sein, dass ich Hunde heute noch als Bedrohung wahrnehme und in Angst und Panik gerate, wenn ich Hunden begegne. Gab es in dieser Situation jemanden, der mich getröstet hat, mir zur Seite stand, und konnte ich im weiteren Leben positive Erfahrungen mit Hunden machen? Gibt es darum heute vielleicht noch ein Unbehagen im Kontakt mit Hunden, aber ich kann mich selbst regulieren und die Situation bewältigen? Bin ich mit Hunden großgeworden, waren sie Freunde oder Spielgefährten, wird meine Bewertung positiv sein und sie lösen kein Gefühl von Gefahr in mir aus, eher Freude und Entspannung.
Um einen angemessenen Umgang mit Stress zu erlernen sowie Möglichkeiten kennenzulernen, chronischem Stress vorzubeugen, ist die Begleitung durch eine Fachperson sinnvoll. Themen, die im Umgang mit Stress wichtig sind, können so unter Begleitung angesprochen und bearbeitet werden, je nach den individuellen Bedürfnissen.
Hierzu gehören Themen wie »Selbstwahrnehmung«, »Grenzen setzen« »Nein sagen«, »Gefühls-Stressregulation«, »Ressourcen«, »Selbstbild«, »Identität«, »Verantwortung und Überverantwortlichkeit« sowie persönliche Lebensthemen.
Mögliche praktische Hilfen
Es gibt verschiedene praktische Tools, die im Umgang mit Stress hilfreich sind, hier ein kurzer Einblick:
Am Anfang ist es oft erforderlich, eine Wahrnehmung für das eigene Stressempfinden zu entwickeln. Dazu ist es möglich, anhand einer Skala eine Einschätzung des persönlichen Stresslevels vorzunehmen. Es wird sichtbar, wie stark das Stressempfinden ist und in welchen Situationen eine Person mehr oder weniger Stress erlebt. Auch wird nachvollziehbar, was den Stress ansteigen lässt und wann ein Mensch sich außerhalb des individuellen Rahmens bewegt, in dem er Stress bewältigen kann.
Vielleicht stelle ich fest, dass mein Stress immer dann ansteigt, wenn ich zu vielen Anforderungen gleichzeitig gerecht werden will, verbunden mit einem Gefühl der Hilflosigkeit. Wenn ich diesen Zusammenhang erkannt habe, kann ich mich konkret damit befassen. Hier wäre es unter anderem wichtig, die Körpersignale wahrzunehmen, die mir anzeigen, dass der Stress steigt, z. B. Unruhe, Fahrigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten oder Druck im Kopf.
Es gilt zunächst, diese Anzeichen als Signale zu erkennen, die mir helfen können, mich zu regulieren.
Hat sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, ist es möglich zu üben, rechtzeitig auf die Signale zu reagieren und dann gezielt etwas zu tun, was guttut und entspannt: z. B. ein Buch lesen, einen Kaffee kochen, spazieren gehen, Sport treiben, Musik hören – je nachdem, über welche Ressourcen eine Person verfügt. Dies hilft, Überforderung zu vermeiden und negativem Stress vorzubeugen.
Darüber hinaus ist es hilfreich, präventive Veränderungen im Umgang mit Stress zu entwickeln. Es kann (auch mit Hilfe einer Fachperson) ein Zeitplan erstellt werden, der bei der Strukturierung der zu erfüllenden Aufgaben im Alltag hilft, inklusive eingeplanter Zeiten der Selbstfürsorge. Solch ein Plan ist dann sinnvoll, wenn er individuell zugeschnitten ist. Manchmal wissen Menschen nicht, was ihnen guttut und woraus sie Kraft schöpfen können. Dann geht es darum, in diesem Bereich Ideen zu entwickeln und im Alltag auszuprobieren. Wenn jemand früher gerne gemalt hat, diese Ressource im stressigen Alltag aber verloren gegangen ist, könnte überlegt werden, wann und wie Zeiten des Malens wieder eingeplant werden können. Im Alltag wird dann ausprobiert und je nach Ergebnis angepasst, bis Verbesserung spürbar ist.
Ein wesentliches Ziel eines solchen Prozesses ist das Entwickeln und Verfestigen von Selbstwirksamkeit: Ich persönlich kann etwas an meinem Umgang mit Stress ändern, ich kann Einfluss darauf nehmen und lernen, so mit Stress umzugehen, dass er zu bewältigen ist und ich handlungsfähig bleibe. Die psychische
Widerstandskraft gegen Stress und Belastungen steigt dadurch an und hilft, chronischem Stress vorzubeugen.
Gerade in der heutigen Zeit mit ihren vielfältigen Herausforderungen und Belastungen ist die Fähigkeit zur Stressregulation lebensverändernd und stabilisierend, kann neue Perspektiven eröffnen und die Lebensqualität deutlich erhöhen.