– von Jörg Brocksieper
Wir Menschen handeln im Allgemeinen selbstbestimmt, überlegt und bewusst. Doch bei digitalen Angeboten scheint diese Regel nicht zu gelten. Warum können immer mehr von uns entgegen aller Pläne und Überzeugungen dem Sog der digitalen Medien nicht widerstehen?
Zuerst müssen wir einen Mythos hinter uns lassen: Im Alltag erfolgen die meisten unserer Handlungen nicht bewusst. Die Bedienung von Auto und Kaffeemaschine, das Anziehen von Jacke und Schuhen, jeder Schritt und jeder Atemzug – über all das denken wir nur selten nach. Selbst in der Kommunikation benutzen wir gewohnte Formulierungen und Floskeln. »Guten Morgen!« waren meine ersten Worte heute an meine Frau – ich würde nicht behaupten, dass dies das Ergebnis eines reflektierten, wohlüberlegten inneren Entscheidungsprozesses war. Und das muss auch so sein, denn diese automatisierten, unbewussten Handlungen halten den Kopf frei für die wirklich wichtigen Überlegungen und Entscheidungen.
Lernen: Die Guten ins Töpfchen…
Wir profitieren also von den vielen Fähigkeiten und Handlungsmustern, die wir im Laufe des Lebens gelernt haben, und unser Gehirn lernt weiter, Tag für Tag. Um zu verstehen, wie dieser Lernprozess läuft und wie es viele digitale Angebote schaffen, sich in unserem Unterbewusstsein festzusetzen, ist es hilfreich, die Funktionsweise des Gehirns beim Lernen zu verstehen.
Die gute Nachricht: Unser Gehirn lernt nicht einfach alles, was über die Sinnesorgane auf es einströmt. Es unterscheidet – wieder hochautomatisiert – zwischen gut und schlecht.
Dinge, die unseren Werten widersprechen, werden negativ belegt. Dinge, die Vertrauenspersonen sagen, werden eher angenommen. Erfolge werden gespeichert, Misserfolge werden dagegen auf die innere Vermeidungsliste gesetzt. Durch Nachdenken und inneres Bewerten können die bereits gelernten Dinge sogar verändert werden. Zuletzt werden auch die Dinge, für die ich mich bewusst entscheide und die ich oft genug wiederhole, gelernt.
Es ist heute bekannt, dass unser Gehirn Gelerntes speichert, indem die dafür notwendigen Gehirnzellen (Neuronen) miteinander verbunden werden. Erfolge führen dazu, dass die dafür benutzten Nervenverbindungen (Synapsen) verstärkt, »dicker« werden. Sie werden in Zukunft vorrangig benutzt und je häufiger sie Erfolg gebracht haben, desto stabiler werden sie. Verbindungen, die lange nicht mehr sinnvoll genutzt wurden, werden sogar wieder abgebaut. Tatsächlich macht Übung also den Meister.
Dopamin, der Lernbooster
Woher wissen die ca. 100 Milliarden Synapsen, welche wachsen dürfen und welche nicht? Ein wichtiger Mechanismus basiert dabei auf dem Botenstoff Dopamin. Wenn das Gehirn entscheidet »Das war ein Erfolg!«, wird Dopamin ausgeschüttet. Die Synapsen, die unmittelbar davor aktiv waren, werden zum Wachsen angeregt. Dopamin steuert dadurch direkt das Lernen.
Zusätzlich sorgt Dopamin dafür, dass Endorphine ausgeschüttet werden, die ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit oder gar ein Glücksgefühl auslösen.
Wer kennt das nicht? Der Ball landet im Tor, alle jubeln: Es prickelt im ganzen Körper! Bei einem Quiz als erstes die richtige Antwort gewusst: ein Hochgefühl. Mein Witz kam an, die ganze Gruppe lacht: wohlige Zufriedenheit. Und das Gehirn lernt: Das mache ich beim nächsten Mal wieder so!
Digitale Angebote erschleichen sich unsere Gunst
Die nicht so gute Nachricht: Das Lernsystem ist manipulierbar. Ob digitale Spiele, soziale Medien oder Shoppingseiten: Wer es schafft, regelmäßig Dopaminausschüttungen zu erzeugen, setzt sich im Gehirn fest. Das wird bei allen großen digitalen Anbietern bewusst eingesetzt, um die Nutzer an sich zu binden und letztendlich mehr Geld – in der Regel mit Werbung oder in-App-Käufen – zu verdienen.
Es gibt kaum ein erfolgreiches Smartphone-Spiel, das nicht ständig dafür sorgt, dass die Spielenden regelmäßig zumindest kleine Erfolge erleben. Man bekommt Tipps, gewinnt Edelsteine, Überraschungsboxen und Spielmünzen. Während Jubel aus dem Lautsprecher schallt, fliegt Konfetti über den Bildschirm. Lautstark blinken drei Sterne auf. Kaum erobert die Spielerin in der Fußballsimulation den Ball, tobt das virtuelle Stadion. Spielt sie schlecht, hilft der Computer-Gegner mit Fehlpässen nach. All das simuliert Erfolg, der Dopaminspiegel steigt und wird oben gehalten.
In den sozialen Medien besteht die Belohnung aus Aufmerksamkeit. 100 Bekannte haben meinen Status gesehen, mein neuer Beitrag hat schon 80 Herzen oder Likes, das System findet »Freunde« für mich. Auch das simuliert sozialen Erfolg – der Dopaminspiegel steigt. Netterweise erscheinen die neuesten Likes im Minutentakt in den Smartphone-Benachrichtigungen. Zusätzlich werde ich erinnert, welche schönen Bilder und Kurzvideos noch auf mich warten.
Selbst Shopping-Anbieter belohnen mich. Ich bekomme Treueangebote, man legt Wert auf meine Rezensionen, für die ich wiederum Auszeichnungen bekomme. Und ich kann gar nicht oft genug an mein nahendes Paket erinnert werden, per E-Mail, SMS und App. Mein Gehirn lernt: Das sind die, die mich glücklich machen.
Im Grunde wissen wir, dass all das keinen echten Wert hat. Aber bis dieser Gedanke Gestalt annimmt, ist das Unterbewusstsein schon hundertfach geprägt – oder manipuliert – worden.
Sicherlich ist nicht jeder Mensch gleich empfänglich für die geschilderten Effekte. Zwei wichtige Effekte
sollten wir aber vor Augen haben:
- Je mehr digitale Angebote wir benutzen, desto mehr setzen wir uns dieser unbewussten Beeinflussung aus.
- Die hohe Dosis an Dopaminanregung, die von den künstlichen Diensten geboten wird, ist in der realen Welt kaum zu bekommen. Langeweile? Der Griff zum Smartphone sorgt in Sekunden für den nächsten Dopamin-Kick.
Selbstbestimmung wiedererlangen
Das Wissen um die bisher geschilderten Zusammenhänge ist eine wichtige Grundlage, um gute Entscheidungen zu treffen. Je nachdem, für welche Dienste oder Angebote du besonders empfänglich bist, können manche der folgenden Tipps für dich hilfreich sein:
- Entscheide ehrlich: Willst du dein Leben (mehr) selbst bestimmen? Oder akzeptierst du die aktuelle Situation insgeheim? Nur dein Wille kann eine Änderung bewirken.
- Überlege jetzt: Wo ist dein Unterbewusstsein schon erfolgreich manipuliert worden? Entdeckst du ein oder zwei typische Einfallstore bei dir? Schreibe sie am besten auf.
- Digitaler Detox: Gönne dir einen Tag, ein Wochenende oder länger ganz ohne die für dich schädlichen Medien, noch besser ganz ohne digitale Geräte. Lass dich überraschen, was passiert. Schon zwei Tage können dir die Augen öffnen!
- Bewerte das falsch Gelernte neu: Benenne die digitalen Belohnungen als das, was sie sind. Was sind deine Worte dafür? Wertloser Spaß, Fake, unsoziale Bestätigung, Zeitfresser, Beziehungskiller… Sprich das beim nächsten Mal laut aus und schüttele den Kopf darüber!
- Schaue wöchentlich in die Zeit-Protokolle deines Smartphones.
- Wenn du es nicht in den Griff bekommst, stelle dir selbst eine Kindersicherung ein. Oder bitte deinen Partner, deine Partnerin oder eine Freundin/einen Freund, dich regelmäßig zu fragen.
- Schreibe zehn gute Dinge auf, die du wegen deiner Mediennutzung in letzter Zeit vernachlässigt hast. Hänge dir die Liste an einen gut sichtbaren Ort oder lass dein Handy dich jeden Morgen daran erinnern. Viel Spaß beim Umsetzen!
Kinder und Jugendliche
Kinder kommen noch viel schwerer aus eigener Kraft gegen die digitale Verführung an. Erst im mittleren Jugendalter ab ca. 15 oder 16 Jahren ist die Entscheidungsreife überwiegend vorhanden, aus Überzeugung »Nein!« sagen zu können. Daher gehört es zu deiner elterlichen Fürsorgepflicht, deine Kinder und Teens altersgemäß vor dem zu schützen, was sie selbst nicht kontrollieren können.
Gute Grenzen zu setzen ist ein Zeichen für Liebe, auch wenn deine Kinder dir anderes erzählen.
Sieh es einmal positiv: Wenn du deine Kinder Schritt für Schritt in diesem wichtigen Bereich der Mediennutzung mündig und stark gemacht hast, haben sie von dir eine der wichtigsten Kompetenzen fürs Erwachsenwerden gelernt!
Mediensucht
Nicht jede exzessive Mediennutzung ist direkt eine Sucht. Auch wenn es nicht günstig ist, sich viele Stunden am Tag in der digitalen Welt aufzuhalten, ist die Zeit allein kein hinreichender Gradmesser für eine Sucht. Als Erkennungszeichen gelten folgende Merkmale:
- Es besteht über mindestens zwölf Monate ein Kontrollverlust,
was die Dauer und Häufigkeit der Nutzung betrifft. - Aktivitäten des alltäglichen Lebens werden vernachlässigt und die Mediennutzung bevorzugt.
- Trotz negativer Konsequenzen (z. B. Schlafstörungen, Schulprobleme, finanzielle Belastungen, Konflikte mit dem Umfeld) kann die Mediennutzung nicht beendet werden.
Wenn du bei dir oder einem Angehörigen solche Anzeichen entdeckst, ist externe Hilfe wichtig. Wende dich am besten an eine Suchtberatungsstelle. Informationen findest du unter:
www.return-mediensucht.de
www.fv-medienabhaengigkeit.de